Stamm, Margrit, 2008. Überdurchschnittlich begabte Minderleister. Wo liegt das Versagen?
Die Deutsche Schule 100, 1, S. 73-84. Quelle
Abstract
Über Minderleister wissen wir wenig. Dabei handelt es sich um Schülerinnen und Schüler, deren Leistungen weit unter dem Niveau liegen, welches sie aufgrund ihrer Intelligenz erbringen müssten. Unsere Studie belegt nicht nur, dass Minderleister eine empirische Tatsache darstellen, sondern auch, dass sie sich von gleich begabten Hochleistern durch eine Reihe von Merkmalen unterscheiden, welche die Schule mit beinflussen kann.
Schlüsselwörter: Minderleistung, Unterforderung, Schulschwänzen.
We know few about gifted underachievers. lt concernspupils, whose achievements are the far under level, which they would have to furnish due to their intelligente. First, our study shows that underachievers represent an empiricalfact. Secondly it explores that they differ from gifted achievers by a set of characteristics. Schools may have an influence an them.
Keywords: Underachievement, unchallenged children, truancy.
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Wir kennen sie alle: Schülerinnen und Schüler, die trotz ihrer hohen Begabung schlechte Noten erzielen und in der Schule scheitern. Auch die Biografieforschung kann mit berühmten Beispielen von Minderleistem wie Thomas Alvar Edison oder Bill Gates aufwarten (Prause 1996). Beide waren schlechte Schüler, wurden aber beruflich äußerst erfolgreiche Erwachsene. Über Minderleistung (,Underachievement‘) weiß die Forschung jedoch insgesamt wenig. Zwar existieren vorwiegend englischsprachige (McCall et al. 1992; Reis & McCo-ach 2000) und einige wenige deutschsprachige Untersuchungen (Hanses & Rost 1998; Sparfeldt & Schilling 2006) zu einer Vielzahl von Faktoren, die mit Minderleistung einher gehen können, doch bleiben viele Fragen offen: Woran liegt es, dass es überdurchschnittlich begabte Schülerinnen und Schüler gibt, die so wenig leisten, obwohl sie doch das intellektuelle Potenzial dazu hätten? Welche Rolle spielt dabei die Schule?
Dieser Aufsatz geht solchen Fragen nach. Er stellt die Befunde einer Studie vor, welche überdurchschnittlich begabte Minderleister überdurchschnittlich begabten Hochleistern gegenüber stellt und nach charakteristischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden fragt.
Das Konzept der Minderleistung basiert auf der Denkfigur der erwartungswidrigen Schulleistung. Sie ist der wissenschaftssprachliche Ausdruck für Erfahrungen, die uns allen geläufig sind: Es gibt Schülerinnen und Schüler, die eine große Diskrepanz zwischen dem, was sie können und dem, was sie leisten, zeigen. Entweder erbringen sie Leistungen, die weit über (,Überlei ster‘ oder ,Overachiever‘) oder weit unter (,Minderleister‘ oder ,Underachiever‘) dem Niveau liegen, welches sie aufgrund ihrer Intelligenz erbringen müssten. Minderleistung wird häufig auf der Basis der Diskrepanz von Leistung und Intelligenz definiert und auf Schülerinnen und Schüler bezogen, deren IQ-Prozentrang >95 bei einem Schulleistungsprozentrang von ≤50 in bestimmten Fächern liegt. Andere Ansätze ziehen zur Voraussage von Leistungen über Fähigkeiten statistische Modelle heran (Smith 2003; Holling & Preckel 2005). Dabei hat sich eingebürgert, Kinder und Jugendliche als Underachiever zu klassifizieren, wenn ihre Abweichungen zwischen tatsächlichen und erwarteten Werten bei der Leistungsvorhersage einen Grenzwert um ein bestimmtes Maß übersteigen. Daneben existieren auch Definitionen, die bereits dann von Minderleistung sprechen, wenn Kinder in der Schule nicht entsprechend ihren Fähigkeiten arbeiten. Problematisch sind solche Definitionen deshalb, weil sie den Eindruck erwecken, nahezu jedes Schulkind sei ein Minderleister. Dies ist auch der Grund, warum gewisse Studien von einem relativ großen, bis zu 50% umfassenden Anteil an Minderleistern ausgehen (Peters et al. 2000; Richert 1991) und dahinter gar eine „nationale Epidemie“ (Rimm 1995) vermuten.
Trotz der rudimentären Erforschung von Minderleistung gibt es einen gemeinsamen Tenor der Forschung. Er betrifft die Geschlechter- und die Ursachenfrage. Aus der Geschlechterperspektive betrachtet gilt Minderleistung als männliches Phänomen (Flammer & Keller 1978; Heckhausen 1980). Die zahlreich vorliegenden Belege berichten durchgehend von einem Verhältnis von Jungen zu Mädchen von 2:1 oder gar 3:1 (Colangelo et al. 1993; McCall et al. 2000; Peterson & Colangelo 1996; Reis & McCoach 2000). Jones und Myhill (2004) interpretieren die Ursache dieser Diskrepanz damit, dass Lehrpersonen häufig vorwiegend geschlechtstypische Erwartungen an Jungen haben und ihnen deshalb höhere intellektuelle Fähigkeiten zuschreiben, Mädchen jedoch eine größere Arbeitsverpflichtung. Aus diesem Grund assoziieren sie Jungen mit nicht erwartet schlechten Schulleistungen eher mit Minderleistung. Minderleistende Mädchen hingegen identifizieren sie weit seltener. Am besten untersucht sind Persönlichkeitsvariablen der Motivation und des Selbstkonzepts. Dabei kristallisiert sich ein relativ problematisches Bild heraus. Sparfeldt und Schilling (2006) sprechen gar von einem „Underachievement-Syndrom“ (S. 214), weil bestimmte negative Persönlichkeitsmerkmale in vielen Untersuchungen bestätigt worden sind. Dazu gehören ein negatives Selbstkonzept, höhere Angst vor Erfolg und höhere Misserfolgsorientierung, geringe Leistungsorientierung und teilweise auch soziale Anpassungsschwierigkeiten (Diaz 1998; Ford 1996; Hanses & Rost 1998; McCoach & Siegle 2003). Einen besonderen Stellenwert räumt die For-
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schung den elterlichen Faktoren ein, die mit dem Underachievement-Verhalten des Kindes zu interagieren scheinen. Klarheit über die Art und Weise oder die Gründe der Einflussnahme besteht jedoch bis anhin nicht. So liegen Arbeiten vor, die Belege für elterliche Überbehütung liefern (Weiner 1992) oder für besonders hohe Erwartungen an schulische Leistungen (Brown et al. 1993). Andererseits gibt es auch klare Hinweise auf autoritäre (Freeman 1992; Taylor 1994) oder auf besonders larsche Erziehungsstile. Jeon und Feldhusen (1993) liefern Belege, dass Minderleistung auch aufgrund ungünstiger Interaktion und fehlender Emotionalität entstehen kann.
Unter dem Stichwort des unsichtbaren Underachievements (Baker et al. 1998) haben seit einigen Jahren auch begabte Minderleister aus sozio-ökonomisch benachteiligten Milieus und aus anderen Kulturen erhöhte Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden. Angenommen wird dabei, dass gerade solche Schülerinnen und Schüler besonders häufig unauffällige Minderleister sind. Durch ihre Herkunft erwachsen ihnen viele Nachteile, die ihre Fähigkeiten, ihren Wissensstand und ihre Motivation nachhaltig beeinflussen. Deshalb arbeiten sie häufig weit unter ihrem Potenzial (Office for Standards in Education, 1996). Besonders betrof-fen sind sie, wenn sie von Schule und Lehrpersonen nicht unterstützt werden.
Weil sich Underachievement hauptsächlich in unterrichtlichen Situationen manifestiert, gilt den Schulfaktoren besondere Beachtung. Entsprechend aufschlussreich sind die Befunde der Studien von Reis (2003) oder Baker et al. (1998). In ihnen wird aufgezeigt, dass ein unangemessener Lehrplan und eine wenig herausfordernde Unterrichtsorganisation zur Entstehung von Langeweile beitragen kann. Diese wiederum können zusammen mit ungünstigen Inter-aktionsstrategien der Lehrperson und ebensolchen Einstellungen der Schülerinnen und Schüler (Butler-Por 1993) maßgeblich am Entstehen von Un-derachievement beteiligt sein. Einen wesentlichen Einfluss dürfte auch die Peergroup haben (Clasen & Clasen 1995). Probleme entstehen insbesondere dort, wo sich Schülerinnen und Schüler, die zu minderleistendem Verhalten tendieren, an solche Peergroups anzuschließen versuchen. In solchen Gruppen gilt die Demonstration von Schuldistanz als statusfördernd, während außergewöhnliche Leistungen verpönt sind. Wer gute Leistungen bringt, gilt schnell einmal als Streber (Pelkner & Boehnke 2003).
Problematisch an der gesamten Forschungslage ist, dass sehr wenige Untersuchungen existieren, die mit Kontrollgruppen durchgeführt worden sind. Deshalb bleibt unklar, inwiefern berichtete Befunde tatsächlich Merkmale von begabten Minderleistem darstellen oder sie auch bei begabten Hochleistern gefunden werden. Aus diesem Grund geht die hier präsentierte Untersuchung einer doppelten Fragestellung nach:
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Methode
Stichprobe
Die Studie bezieht sich auf die Stichproben zweier Schweizer Längsschnittstu-dien. Während das Projekt „Hoch begabt und ,nur‘ Lehrling?“ („HBL“) die Leistungsentwicklung überdurchschnittlich begabter Lehrlinge während der Berufsausbildung untersucht, fragt die Studie „Frühlesen und Frührechnen als soziale Tatsachen“ („FLR“) nach den Wirkungen des vorschulischen Kompetenzerwerbs auf die Leistungsentwicklung im Erwachsenenalter. Beide Projekte werden von der Berufsbildungsforschung des Bundesamtes für Berufsbildung, der beteiligten Deutschschweizer Kantone und dem Fürstentum Liechtenstein finanziert. Das HBL-Projekt umfasst 376, heute 19-jährige Personen, das FLR-Projekt 360, ebenfalls 19-jährige Personen. Für die hier präsentierte Teilstudie wurden alle Jugendlichen herausgefiltert, welche in einem kognitiven Fähigkeitstest einen IQ-Prozentrang von =90 erreichten. Im FLR-Projekt waren es der CFT 1 (Weiss & Osterland 1980) und der CFT 20 (Weiss 1987), im HBL-Projekt das Leis-tungsprüfungssystem L-P-S (Horn 1983). Im HBL-Projekt konnten auf diese Weise 180 Personen, im FLR-Projekt 122 Personen ausgewählt werden. Die Zusammenführung dieser beiden Stichproben lässt sich aus vier Gründen legitimieren: Erstens haben die Probandinnen und Probanden den gleichen Jahrgang (1988). Zweitens stammen sie aus vergleichsweise ähnlichen Schulniveaus (zwischen 30% und 35% oberstes, 45% und 55% mittleres und 20% resp. 25% unterstes Anforderungsniveau). Drittens liegen für beide Tests Untersuchungen vor, welche Beziehungen mit anderen Fähigkeitstests im mittleren bis hohen Bereich nachweisen. Viertens sind die Instrumente zur Erfassung der Daten sowie der Zeitpunkt der Befragung sehr ähnlich. Die FLR-Befragung fand im Herbst/Winter 2003/2004 statt, also kurz vor Ende der obligatorischen Schulzeit, die HBL-Be-fragung im August 2004, unmittelbar nach Beginn des ersten Lehrjahres. Die Schuldaten wurden in beiden Fällen über die Schulleitungen erfasst.
Auf der Grundlage dieser Stichprobe, die insgesamt 264 Personen umfasste, wurde anhand der Selektionskriterien bestimmt, wer der Subgruppe der Hoch-leister (IQ-Prozentrang ≥-90, Schulleistungsprozentrang (Deutsch/Mathema-tik) 75) und wer der Subpopulation der Minderleister (IQ-Prozentrang Schulleistungsprozentrang (Deutsch/Mathematik) –,550) zugeteilt werden sollte. Die Minderleister umfassten schließlich 51 Personen (25 Personen aus dem FLR-Projekt, 26 Personen aus dem HBL-Projekt). Die Hochleistergruppe bestand aus 213 Personen (59 Personen aus dem FLR-Projekt, 154 Personen aus dem HBL-Projekt).
Erhebungsinstrumente und Auswertung
Erfasst wurden demographische Merkmale, schulbezogene Variablen inklusive Schulpräsenz (die mit dem Ausmaß des Schulschwänzens erhoben wurde) und berufliche Zukunftspläne. Die Ermittlung der sozio-ökonomischen Hinter-grundsvariablen erfolgte mittels Einzelfragen. Zur Erfassung schulbezogener Variablen wurden zwei Items zur Bewertung vorgegeben: die ,Beziehung zu
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den Lehrkräften‘ und die ‚stoffliche Herausforderung‘. Die Skala ,Schulschwänzen‘ maß die Unterschiedlichkeit und Intensität schulabsenten Verhaltens. Schließlich wurden die beruflichen Zukunftsvorstellungen mittels drei Items erhoben: das anvisierte Berufsfeld, die Sicherheit über die zukünftigen Berufspläne und der angestrebte höchste berufliche Abschluss. Die Differenzen wurden mittels Chi-Quadrat-Analysen berechnet.
Demographische Merkmale
Von Interesse ist als Erstes, ob es Geschlechtsunterschiede zwischen Hoch-und Minderleistern gibt und ob sie sich hinsichtlich ihres kulturellen und sozialen Hintergrundes unterscheiden. Tabelle I stellt die Befunde zusammen. Dabei wird ersichtlich, dass es zwischen den beiden Gruppen signifikante Geschlechtsunterschiede gibt. Damit stützen auch unsere Ergebnisse die Etikettierung von Minderleistung als männlichem Phänomen. Mit Blick auf die Nationalität ergeben sich hingegen keine relevanten Unterschiede. Anders sieht es wiederum in Bezug auf die soziale Herkunft aus. Minderleister kommen tendenziell aus bildungsnäheren Elternhäusern als Hochleister. Dies gilt jedoch in erster Linie für den Ausbildungshintergrund des Vaters.
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Lehrer-Schüler-Beziehungen, stoffliche Herausforderung und Schulschwänzen
Die in Tabelle 2 aufgeführten Ergebnisse fördern teilweise erstaunliche Ergebnisse zu Tage. Zunächst zeigen sich in den Beziehungsstrukturen zu den Lehrpersonen deutliche Unterschiede, wie sie auf Grund allgemeiner Forschungsbefunde auch erwartet werden konnten. Im Vergleich zu allgemeinen Forschungsergebnissen zu Lehrer-Schüler-Beziehungen (Satow 2000) fallen diese Befunde der Minderleister deutlich negativer aus. Signifikante Unterschiede zeigen sich auch in Bezug auf das unterrichtliche Anspruchsniveau. Insgesamt lassen die Ergebnisse darauf schliessen, daß sowohl Hoch- als auch Minderleister im Unterricht weit stärker gefordert werden könnten. Minder-leister stellen die deutlicher unterforderte Gruppe dar als die Hochleister.
Mit Blick auf die dritte erfragte Variable, das Schulschwänzen, ergeben sich ebenfalls markante Unterschiede. Diese zeigen sich jedoch nur im massiven Schulschwänzen. Deutlich mehr Minderleister müssen dabei als massive Schulschwänzer bezeichnet werden: 4,4% haben im letzten halben Jahr zwischen fünf und zehn Tagen und 6,8% gar mehr als zehn Tage gefehlt. Bei den Hochleistern sind es 2,8% resp. 3,3%. Im Vergleich zu unserer Schweizer Schul-absentismus-Studie (Stamm 2007), welche 4,7% massive Schulschwänzer zu Tage gefördert hat, zeigen die Minderleister damit ein deutlich überdurchschnittlich ausgeprägtes Schwänzverhalten.
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Zukunftspläne
Von Interesse ist schließlich die Frage, inwiefern sich Minderleister in ihren Zukunftsplänen von Hochleistern unterscheiden. Aus Tabelle 2 wird der erstaunliche Befund ersichtlich, dass sich die beiden Gruppen wohl in Bezug auf den höchsten Berufsabschluss unterscheiden, nicht jedoch in Bezug auf die Sicherheit, mit der das Berufsziel angestrebt wird. Zwar zeigen die Hochleister eine geringfügig höher ausgeprägte Sicherheit in der Zielfindung (26,7%) als die Minderleister (25,7%), doch liegen die Unterschiede lediglich im zufälligen Bereich. Damit decken sich diese Befunde mit den Ergebnissen Fends zur Berufsfindung und Identitätsentwicklung Adoleszenter (Fend 1991), die je ein Viertel als Sichere resp. Diffuse und ca. die Hälfte als Suchende identifiziert hatte. Im Hinblick auf den höchsten angestrebten Berufsabschluss zeigt sich eine signifikante Tendenz zu höheren beruflichen Abschlüssen der Hochleis-ter und zu berufspraktischerer Ausrichtung der Minderleister. Deutliche Unterschiede zeigen sich auch in den angestrebten Berufsbereichen. Die Präferenzen der Minderleister gehen stärker in Richtung Kunst, Theater und Erziehung oder Gastgewerbe und Tourismus, während Hochleister signifikant häufiger Bau und Technik oder Wirtschaft und Verwaltung wählen.
Insgesamt erweist sich die Minderleister-Gruppe damit trotz ihrer deutlich ungünstiger verlaufenen Schulkarriere als ähnlich ziel- und berufsambitioniert wie die Gruppe der Hochleister. Minderleister zeigen jedoch eine deutlich kreati-
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vere und sozial-engagiertere Ausrichtung. Inwiefern es sich dabei um eine realistische Einschätzung oder eher um eine Überschätzung handelt wie dies Mandel et al. (2001) von Jugendlichen am Beginn ihrer Berufslaufbahn berichten, lässt sich nicht beantworten. Dazu müsste auch eine Fremdeinschätzung vorliegen.
Diese Studie befasste sich mit dem Phänomen der Minderleistung. Ihr erstes Ziel bestand darin, Einsicht in einige im deutschsprachigen Raum bislang wenig diskutierte Merkmale zu erhalten. Zu diesem Zweck wurde eine Gruppe von Min-derleistern mit einer Gruppe gleich begabter Jugendlicher mit sehr guten Schulleistungen (Hochleister) verglichen. Am Beispiel unserer Stichprobe ließen sich einige markante und weniger markante Unterschiede zwischen den beiden Gruppen belegen. Im Ergebnis lassen sich folgende Erkenntnisse hervorheben:
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Insgesamt legen unsere Befunde nahe, das Augenmerk verstärkt auf Minder-leister und auf Unterrichtsprozesse zu richten. In der Folge der PISA-Studien und auch im Rahmen der Diskussion um Risikoschüler haben sich Forschung und pädagogische Praxis zu stark und zu generalisierend auf Schülerinnen und Schüler am unteren Ende der Skala konzentriert. Die Frage des individuellen Leistungspotenzials ist bisher kaum angemessen berücksichtigt worden. Die in dieser Studie portraitierten Minderleister machen auf solche Probleme aufmerksam: Es gibt auch Schülerinnen und Schüler, die gute Leistungen zu erbringen imstande wären., die aber möglicherweise von der Schule daran gehindert werden und nicht zuletzt deshalb Elemente von Risikoentwicklungen auf sich vereinigen, die ihren weiteren Lebens- und Berufsweg gefährden.
Erinnert sei an die in England pointiert diskutierte Perspektive, wonach Schulen und Lehrpersonen Minderleistung provozieren können und nicht nur— wie dies die einfachere Variante wäre — das Elternhaus und der Schüler selbst dafür verantwortlich zu machen ist. Deshalb gilt es auch hierzulande, bei Min-derleistern als Schulversagern vermehrt zu fragen, wer denn hier versagt, der Schüler oder die Schule? Die Schule versagt dann, wenn es ihr nicht gelingt, Lernumgebungen und Unterrichtssituationen so zu gestalten, dass sie auch für überdurchschnittlich begabte Kinder und Jugendliche intellektuell herausfordernd sind. Was heißt das? Im Wesentlichen, dass Lernumgebungen auch überdurchschnittlich Begabte dort abholen, wo sie stehen, ihre Vorkenntnisse berücksichtigen, wenig Repetitives und Additives vorsehen, viel Selbstständigkeit und eigenverantwortliches Arbeiten ermöglichen und Platz und Anerkennung schaffen für ungewohntes Denken und auf den ersten Blick schwer nachvollziehbare Problemlösestrategien. Dass dies vielen Lehrpersonen nicht gelingt, mag jedoch kaum an mangelndem didaktischem Know-how liegen. In erster Linie dürfte es auch damit zu tun haben, dass Minderleister häufig unbequeme, schwierig zu führende und sehr herausfordernde Schülerinnen und Schüler sind. Sie verfügen vielleicht über Potenzial, welches — wenn es in Leistung umgesetzt würde — das Wissen und Können der Lehrperson übersteigen, vielleicht gefährden würde. Die Nichtbeachtung von Minderleis-tern könnte deshalb auch eine unbewusste Strategie sein, das eigene Selbstbewusstsein nicht zu gefährden. Die Forderung, dass Lehrpersonen viel stärker Potenzialentwicklung und weniger Leistungsmessung betreiben sollten, ist deshalb mit Sicherheit mit einem schwierigen Paradigmenwechsel verbunden: Es geht nicht mehr nur um die Bereitschaft, Potenziale bei Schülerinnen und Schülern zu vermuten, sie zu suchen, zu erkennen und auch anzuerkennen. Es geht auch um die Bereitschaft, das Talent bei Schülern zu fördern, das möglicherweise größer ist als das Eigene.
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Anschrift: Departement für Erziehungswissenschaften, Rue Faucigny 2, 1700 Fribourg;
Email: margrit.stamm@unifr.ch
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Margrit Stamm, geb. 1950, Prof. Dr. phil. Professorin an der Universität Fribourg-CH, Lehrstuhl Pädagogik und Pädagogische Psychologie. Arbeitsschwerpunkte: Frühkindliche Bildungsforschung, Berufs- und Sozialpädagogik des Jugendalters, Risikoentwicklungen, Begabungsforschung und Berufsbildung.