Originalpublikation hier
Arbeitsmedizinische S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V. (DGAUM) und der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft e.V. (GfA)
Leitlinienkoordination: Johanna Barbara Sattler (München), André Klußmann (Hamburg/Wuppertal)
Leitliniengruppe: Johanna Barbara Sattler (München), André Klußmann (Hamburg/Wuppertal), Birgit Arnold-Schulz-Gahmen (Dortmund), Almuth Vasterling (Celle), Bernd Hartmann (Hamburg) 002/017 – S1-Leitlinie Händigkeit – Bedeutung und Untersuchung / Stand 06.2020
Wesentlicher Bestandteil einer menschengerechten Arbeitsgestaltung ist es, dass die Arbeitsbedingungen und der Arbeitsablauf ergonomisch – also an die Eigenschaften des Menschen angepasst – gestaltet sind. Hierunter fallen u.a. die räumlich und zeitlich optimale Anordnung der zu greifenden Gegenstände (Werkstück, Werkzeug, Halbzeug) sowie die Optimierung der Arbeitsgeräte für eine Aufgabe derart, dass das Arbeitsergebnis (qualitativ und wirtschaftlich) optimal wird und die arbeitenden Menschen möglichst wenig ermüden oder gesundheitlich beeinträchtigt bzw. geschädigt werden, auch wenn sie die Arbeit über Jahre hinweg ausüben. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Gebrauchstauglichkeit und Benutzerfreundlichkeit.
Bei der Gestaltung der Arbeit sind die individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten der Beschäftigten zu berücksichtigen. Dazu gehören auch Aspekte der Lateralität (Seitigkeit) und hierbei insbesondere der Händigkeit (Definitionen: Abschnitt 2.2).
Die Händigkeit ist eine charakteristische Eigenschaft einer Person, die sich auf ihre Entwicklung zur Persönlichkeit auswirkt und die zu respektieren ist. Händigkeit ist eine biologisch determinierte phänomenologische Eigenart und deshalb auch ein inhärenter Wesensbestandteil eines Menschen. Die Respektierung der Händigkeit im Alltag und damit auch im Arbeitsleben ist ein Bestandteil der Persönlichkeitsrechte und darunter des Rechts auf körperliche Unversehrtheit. Erkenntnisse aus der Hirnforschung zeigen, dass eine Umschulung von linkshändigen Menschen zum „pseudodominanten“ Gebrauch der rechten Hand mit negativen Folgen für die Entwicklung von Fähigkeiten und Fertigkeiten einhergehen kann. Das gleiche würde auf Rechtshändige im Falle einer Umschulung auf die linke Hand zutreffen.
Seit Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts hat sich in Mitteleuropa die soziale Bewertung und die generelle Haltung gegenüber Linkshändigkeit und nicht eindeutiger Händigkeit in wichtigen Bereichen unserer Gesellschaft deutlich verbessert. So werden linkshändige Kinder heute in der Regel nicht mehr zu Rechtshändigen umerzogen. Eine Vielzahl von Beobachtungsstudien zeigen einen Zusammenhang zwischen Umschulungen und verschiedenen negativen gesundheitlichen Ausprägungen (siehe Abschnitt 5.2). Es wurden eine Reihe von Änderungen von Vorschriften und Regelungen im Bereich von Schulen, Gesundheits- und Sozialwesen sowie von Verbesserungen bei der Gestaltung von Gebrauchsgegenständen, Spielwaren oder Arbeitsmitteln erreicht. Trotz vieler positiver Veränderungen für Linkshänder*innen sind die Kenntnisse zur Händigkeit beim Menschen noch nicht im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert, was u.a. dazu führt, dass es z.B. beim Paradoxon der „unerkannten Rechtshändigkeit“ (siehe Seite 17) ungewollt auch heute noch zur Umschulung von rechtshändigen Personen kommen kann.
Die Häufigkeit von Linkshändigen ist nicht präzise zu bestimmen. Die Vermutung, dass etwa 10 bis 15% der Bevölkerung Linkshänder*innen sind, wäre schon eine hinreichend große Zahl, um nicht als Ausnahme oder Sonderfall zu gelten, mehrere Studien geben diesbezüglich sogar einen Anteil von 20 bis 30% oder noch höher an (siehe Abschnitt 2.3). Es ist zu bedenken, dass man nicht nur „von selbst“ durch Versuch und Erfahrung, sondern auch durch Beobachtung und Nachahmung von Bezugspersonen lernt. Lernen durch Nachahmen verursacht in einer rechtshändig dominierten Gesellschaft eine erhebliche Dunkelziffer bei der praktischen Ausprägung von Linkshändigkeit im Vergleich zur „angeborenen“ Händigkeit, welche die Aussagekraft der vorhandenen Statistiken einschränkt. Wegen der Annahme, dass durch Umlernen zum Rechtshandgebrauch die Linkshändigkeit unwissentlich „kaschiert“ wird, ist ein deutlich höherer Anteil originär linkshändiger Menschen an der Bevölkerung zu vermuten. Eine Einteilung der Bevölkerung in Links- und Rechtshändigen beschreibt die Sachlage deshalb nicht ausreichend, zumal es unterschiedlich starke Erscheinungsformen der Händigkeit aufgrund von gesellschaftlichen Einflüssen auf die Ausprägung der Händigkeit gibt.
Von der frühkindlichen Entwicklung über die schulische Ausbildung bis zum Berufs-und Arbeitsleben können sich durch die Erkennung und Respektierung der anlagebedingten Händigkeit vermeidbare Konflikte bei der Bewältigung von Anforderungen ergeben. Dabei sind Arbeitsmedizin und Arbeitswissenschaft auf ein hohes Maß interdisziplinärer Zusammenarbeit angewiesen.
Diese Leitlinie soll insbesondere der Berücksichtigung der Händigkeit in der betrieblichen Praxis dienlich sein. Wesentliche Aspekte dieser Leitlinie sind:
Der Begriff Lateralität bezeichnet, in welchem Maß entweder die Aufnahme sensorischer Reize oder der motorische Output auf einer Körperseite stärker ausgeprägt ist als auf der anderen Körperseite (nach Murray 1998).
Als Händigkeit – sie ist ein Teil der Lateralität – wird die Bevorzugung der linken oder rechten Hand bei motorischen Handlungen bezeichnet. Sie äußert sich in einem präferierten Handgebrauch insbesondere in Verbindung mit größerer Geschicklichkeit und Ausdauer (Vasterling et al. 2011). Es werden unterschieden:
Händigkeit ist vor allem Ausdruck der motorischen Dominanz im menschlichen Gehirn und damit angeboren. Sie betrifft sowohl die Bevorzugung einer Hand als auch die stärkere Betonung der hemisphärischen Verarbeitung motorischer und sensorischer Informationen in der entsprechenden kontralateralen Gehirnhälfte.
Feinmotorische Tätigkeiten, wie z. B. das Zeichnen und Schreiben, Schneiden mit dem Messer oder Feinmontage, werden vornehmlich mit der dominanten Hand ausgeführt. Bewegungen bei Handlungen, die eher großmotorisch über das Schulter-Arm-System realisiert werden, sind weniger lateralisiert. Auch Tätigkeiten mit hohen Anforderungen an die Kraft sind nicht so stark auf die dominante Hand fokussiert, was z. B. bei der Messung der Handdruckkraft nachzuweisen ist (vgl. Abschnitt 3.3).
In der Arbeitswelt spielt nicht allein die Ausprägung einer Seitenbevorzugung der Hand eine Rolle. Vielmehr ist ein komplexes Gefüge der motorischen Ausrichtung von Händigkeit (H) und Füßigkeit (F) sowie der sensorischen Prägung von Äugigkeit (A) und Ohrigkeit (O) im Zusammenhang zu betrachten. Arnold-Schulz-Gahmen et al. (1998a) ermittelten mittels eines standardisierten Fragebogens in einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe (Adaptation von Coren, 19931) die Häufigkeiten des Auftretens der Kombinationen individueller Seitenbevorzugungen für die Organpaare Hand, Auge, Ohr, Fuß (HAOF). Individuell betrachtet zeigt sich die Bevölkerung überwiegend rechts lateralisiert, d. h. die rechte Seite des jeweiligen Organpaares wird bevorzugt eingesetzt. In dieser Untersuchung wurde eine Dominanz von rechter Hand bei 91 %, rechtem Fuß bei 83 %, rechtem Auge (bez. Sehachsendominanz) bei 71 % und rechtem Ohr (bez. Richtungshören) bei 60 % der Stichprobe ermittelt. Diese Häufigkeiten implizieren, dass z. B. nicht jeder Rechtshändige zugleich auch Rechtsäugig ist und demnach auch gekreuzte Lateralitätsprofile vorkommen. Weitere Details zu den hier ermittelten Häufigkeiten sensorisch-motorischer Lateralitätsgruppen siehe Anhang 1.
Wie bereits in den Vorbemerkungen angesprochen wurde, gibt es in der weiteren Literatur zur Häufigkeit von Linkshändigen unterschiedliche Angaben. Verschiedene Studien ermittelten einen Linkshänderanteil in der europäischen Bevölkerung von etwa 10 – 15% (Annett 1975, Porac & Coren 1981, Chapman & Chapman 1987, Björk 2012). Es ist allerdings davon auszugehen, dass diese Arbeiten den tatsächlichen Anteil an Linkshändigen nicht ausreichend erfassen, da einerseits die Gruppe der umgeschulten linkshändigen Personen oft unvollständig erfasst wurde und andererseits unterschiedliche Tests zur Feststellung der Händigkeit eingesetzt werden. Schmauder und Solf (1992) kommen zu dem Schluss, dass die Angabe eines einzigen prozentualen Kennwertes angesichts der unterschiedlichen Klassifikationskriterien der Händigkeit und der Verschiedenheit der erhobenen Stichproben nicht möglich ist. Je nachdem, mit welchen Fragen oder Tests die Händigkeit in Studien erfasst wird, entstehen unterschiedliche Verteilungen.
Unterschiede ergeben sich beispielsweise, wenn als Indikator entweder die Bevorzugung einer bestimmten Hand (Handpräferenz) oder die Leistungsüberlegenheit (Handperformanz) einer Hand betrachtet wird (Schmauder & Solf 1992). Serafin et al. (2014) führten eine Sekundäranalyse zu dieser Fragestellung mit Datensätzen (Befragung und Kraftmessungen) einer repräsentativen Stichprobe von Personen im Alter zwischen 4 und 91 Jahren durch. Tendenziell ist in den jüngeren Altersgruppen der Linkshänderanteil höher, was vermutlich damit zusammenhängt, dass linkshändige Kinder heute nicht mehr umerzogen werden. Weitere Details zu Häufigkeiten von Händigkeiten (bez. Handpräferenz/Handperformanz) sind im Anhang 2 zu finden.
Die Frage der biologischen Anthropologie nach der Erbe-Umwelt-Bedingtheit sensorischer und motorischer Seitenbevorzugung und Leistungsdominanz, insbesondere der Linkshändigkeit, hält bis heute historische, religiöse, soziologische, biologische und medizinische Hypothesen und Theorien zu ihrer Erklärung bereit. Aus den verschiedenen Erklärungsansätzen der Händigkeit bilden sich drei prinzipielle Schwerpunkte heraus, die sich in genetische Theorien, Umwelt-Theorien und sonstige Theorien gruppieren lassen. Eine Zusammenfassung hierzu beschreiben z. B. Schmauder und Solf (1992).
Rechtshändige aktivieren bei motorischen Handlungen der rechten Hand wie dem Schreiben Areale der linken Hirnhemisphäre, während sich dies bei Linkshändigen vice versa verhält. Bei den „umgeschulten“ linkshändigen Personen, die entgegen ihrer individuellen Veranlagung beim Schreiben zum Gebrauch der rechten Hand angewiesen wurden, konnte dagegen von Siebner et al. (2002) mittels eines bildgebenden medizinisch-diagnostischen Verfahrens (Positronen-Emissions-Tomographie = PET) folgendes nachgewiesen werden:
Auf Rechtshandgebrauch Umgeschulte aktivieren beim Schreiben nicht ausschließlich Areale der linken, sondern beider Hemisphären. Die assoziativen Steuerungszentren für die Bewegungsplanung bleiben auf der rechten Seite und werden zusätzlich auf der linken Gehirnseite aktiviert (Sun et al. 2012). Somit dürfte sich der physiologische Aufwand für die Schreibtätigkeit erhöhen. Weitere Untersuchungen mit fMRT (funktionelle Magnetresonanz-Tomographie) zeigten, dass beim feinmotorischen Einsatz rechtshändiger Fingerbewegungen von umgeschulten Linkshändigen nicht nur „angewöhnte“ Hirnstrukturen der linken Hemisphäre aktiviert werden, sondern höhere Rechtshirnareale intrinsisch „passiv“ mitaktiviert werden (Klöppel et al. 2007).
Die neurophysiologisch-neuromorphologischen Besonderheiten zeigen, dass eine umgeschulte linkshändige Person keine „echte rechtshändige“ Person wird. Der auf Rechtshandgebrauch umgeschulte Linkshändige weist in Folge lebenslanger Gehirnplastizität bereits für Schreibtätigkeiten überadditiv aktivierte Hirnareale auf.
Die Rückschulung des Handgebrauchs auf links bei als Kind umgeschulten Linkshändigen zeigt einen erneuten physiologisch-funktionellen anspruchsvollen „Hirnumbau“. Die Notwendigkeit eines behutsamen Vorgehens und einer qualifizierten Begleitung von Rückschulungen kann daraus abgeleitet werden. Rückschüler erreichen oftmals nach zwei Jahren regelmäßigen Trainings zum Schreiben mit der linken Hand noch nicht die Leistung, die sie zuvor mit ihrer rechten Hand hatten (Sattler & Marquardt, 2006).
Der Händigkeit kommt bei vielen beruflichen Tätigkeiten eine große Bedeutung zu. So gibt es kaum Tätigkeiten im handwerklichen oder industriellen Bereich ohne feinmotorische Anforderungen, bei denen nicht eine Hand die Führung bei der Ausführung derartiger Tätigkeiten übernimmt. Das betrifft z. B. komplexe Montageprozesse in der Elektro- und Elektronikindustrie, die handwerkliche Bearbeitung von Holz, Steinen oder Metall wie auch medizinisch operative Tätigkeiten.
Die menschengerechte Gestaltung der Arbeitsbedingungen, welche die individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten des Menschen im Arbeitssystem angemessen berücksichtigt, ist für Links- und Rechtshändige zu gewährleisten. Daraus folgt insbesondere für Tätigkeiten mit hohen feinmotorischen Anforderungen (Schmauder 1998), dass die Händigkeit berücksichtigt wird
Aufgrund der Komplexität und Vielfältigkeit von funktionalen Lateralitäten ist deren Bestimmung durch einfache Beobachtung oder das Stellen einiger Fragen zum bevorzugten Gebrauch der rechten oder linken Hand in der Regel nicht ausreichend. Auch können einzelne Leistungskomponenten der Seitendominanz unterschiedlich stark ausgeprägt und auch durch Übung automatisiert sein. So ist beispielsweise eine in Handleistungstests nachweisbare Seitendominanz nicht immer mit einer bevorzugten Nutzung der dominanten Hand korreliert. Für eine kompetente arbeitsmedizinische Beratung ist eine differenzierte Betrachtung erforderlich. Wesentliche Aspekte hierbei sind:
Es wird häufig angenommen, dass Linkshändige eine erhöhte Unfallgefahr haben. Dazu sind bisher allerdings nur wenige und in den Ergebnissen nicht konsistente Untersuchungen publiziert worden. Problematisch hierbei ist die Probandenauswahl, wobei umgeschulte Linkshändige in der Regel keine Beachtung gefunden haben dürften und daher die Ergebnisse kritisch zu betrachten sind. Coren (1989) findet bei 1.896 kanadischen Studierenden ein leicht erhöhtes Unfallrisiko für Linkshändige, jedoch nur bei Sport oder Autofahren. Bei einer Befragung von 402 Personen fand Porac (1993) keinen Unterschied zum Nachteil der Linkshändigen, aber eine generelle Häufung von Unfällen an der dominanten Hand sowohl bei Links- als auch bei Rechtshändigen. Porac und Searleman (2006) untersuchten vergleichend auch das Unfallrisiko für alte Menschen zwischen 65 und 100 Jahren in Kanada und konnten auch hier keine Präferenz von Links- oder Rechtshändigen feststellen. Nach Beaton et al. (1994) sollen in einer chirurgischen Versorgung mehr Rechtshändige mit Verletzungen der linken als der rechten Hand eintreffen, für die Linkshändigen gibt es dagegen keine Angaben. Eine griechische Fall-Kontroll-Studie an 122 Fällen und 244 Kontrollen von Kindern zwischen 4 und 14 Jahren (Skalkidou et al. 1999) zeigt eine nur schwache Beziehung für die Benachteiligung von Linkshändigen bei Unfällen.
Insbesondere bei repetitiven Tätigkeiten (z. B. industrielle Montage von Produkten, Handarbeiten wie an Näharbeitsplätzen oder Polstern) kann das Hand-Arm-System stark belastet sein und zu Beanspruchungsfolgen wie Sehnenscheidenentzündungen oder Kompressionssyndromen, wie z. B. dem Karpaltunnelsyndrom (CTS) führen. Als tätigkeitsbedingte Risikofaktoren werden hierbei insbesondere repetitive Tätigkeiten mit Beugung und Streckung der Hände, erhöhter Kraftaufwand der Hände (kraftvolles Greifen) und/oder die Einwirkungen von Hand-Arm-Vibrationen beschrieben (Giersiepen und Spallek 2011). Es besteht keine wissenschaftliche Evidenz darüber, ob Linkshändige bei der Ausübung von Tätigkeiten mit manuellen Arbeitsprozessen häufiger tätigkeitsbedingt von Beschwerden und Erkrankungen der linken Hand betroffen sind als Rechtshändige mit der rechten Hand. Dies wäre dann zu vermuten, wenn Linkshändige an für Rechtshändigen gestalteten Arbeitsplätzen arbeiten, da hierbei eine ungünstige Hand-Arm-Stellung erwartet werden könnte. Diese Vermutung wird gestützt durch eine Studie von Zambelis et al. (2010), denn sie zeigte, dass Linkshändige ein 13-fach erhöhtes Risiko haben, ein CTS an ihrer dominanten linken Hand zu bekommen, Rechtshändige jedoch nur ein 5-fach erhöhtes Risiko für die rechte Hand. Aufgrund der geringen Evidenz zu Zusammenhängen zwischen der Händigkeit und den Häufigkeiten von lateralitätsspezifischen Erkrankungen können allerdings hier nur die generellen Empfehlungen ausgesprochen werden, bei der Gestaltung derartiger Tätigkeiten auf eine ausgeglichene Belastung der Hände zu achten. Weiterhin sollte darauf geachtet werden, dass die Handhabungen, die ein hohes Maß an Geschicklichkeit erfordern, mit der dominanten Hand ausgeführt werden (siehe hierzu auch Kapitel 6). Es empfiehlt sich zudem die Bewertung und Beurteilung der Tätigkeiten mit anerkannten Verfahren, wie z. B. mit der Leitmerkmalmethode „manuelle Arbeitsprozesse“ (BAuA, 2019).
Die Geschicklichkeit setzt sich aus vielen, weitgehend nicht miteinander korrelierenden Komponenten zusammen, wie zum Beispiel anatomische und physiologische Voraussetzungen, Genauigkeit, Schnelligkeit, Lernfähigkeit, Feinmotorik, taktile Empfindung, Reaktionsgeschwindigkeit, Hand-Hand- und Hand-Auge-Koordination, Komplexität und Art der Aufgabenstellung (Fleishman 1967, 1972). So ist es auch verständlich, dass nur stark lateralisierte Personen eine höhere Geschicklichkeit der bevorzugten Hand aufweisen (Annett et al. 1975, Flowers 1975).
Der komplexe Zusammenhang zwischen Bewegungsgeschwindigkeit und Bewegungsgenauigkeit des Hand-Arm-Systems hat zur Folge, dass der Mensch bei nicht durch Übung hoch automatisierten Bewegungsabläufen entweder sehr schnelle und relativ ungenaue oder aber langsame und sehr genaue Bewegungen ausführen kann (Schmidt 1988). Die subdominante Hand hat grundsätzlich eine längere sensomotorische Reaktionszeit als die dominante Hand (Flowers 1975). Der Vorteil der dominanten Hand ist somit, dass sie genauere Bewegungen mit geringeren physiologischen Kosten ausführen kann. Die nicht-dominante Hand kann häufig über ein längeres Training eine vergleichbare Performanz erreichen. Daraus resultiert jedoch ein höherer physiologischer und neurologischer Aufwand für Linkshändige bei der Ausführung von Tätigkeiten, die eher für Rechtshändige ausgelegt sind.
Serafin et al. (2014) betrachteten erreichbare Maximalkräfte bei den Kraftfällen Ziehen, Greifen und Drehen unter 1.214 Probanden. Im Mittel sind rechtsdominante Frauen und Männer in allen Kraftfällen stärker mit ihrer rechten Hand. Linksdominante Frauen und Männer sind dagegen zwar tendenziell links stärker, jedoch mit deutlich schwächeren Ausprägungen der Seitenunterschiede. Bei der maximalen Zugkraft wird eine generelle Überlegenheit der dominanten Hand beschrieben (Serafin et al. 2014, Schmauder & Solf 1992). Eine Abhängigkeit der Kraftunterschiede von der Raumposition und/oder der Kraftrichtung wurde nicht festgestellt (Schmauder 1998).
Beim Drehen der Hand beispielsweise bei der Benutzung von Schraubendrehern sind allerdings signifikante Unterschiede zwischen Pronation (Innen-) und Supination (Außenrotation) zu beobachten. Bei der Pronation können grundsätzlich höhere Drehmomente auf den Griff eines Schraubendrehers aufgebracht werden als bei der Supination. Das liegt u. a. daran, dass die Kopplungsbedingungen bei der Pronation durch die aktive Beteiligung des Daumenballens verbessert sind. Selbst die sub-dominante linke Hand einer rechtshändigen Person ist deshalb beim Eindrehen einer Schraube der rechten Hand überlegen. Auch Rechtshändige sollten also für kraftbetontes Drehen im Uhrzeigersinn durchaus die linke Hand benutzen, wogegen Linkshändige z. B. beim Festdrehen einer Schraube grundsätzlich im Vorteil sind. Für rotatorische kraftbetonte Arbeiten entgegen dem Uhrzeigersinn wie beim Lösen von Schraubverbindungen ist jedoch die rechte Hand der linken Hand überlegen.
Aus elektromyographischen Untersuchungen an vier in die Arbeit involvierten Muskeln des Hand-Arm-Systems geht ferner hervor, dass höhere Drehmomente bei der Pronation, d. h. bei der Innenrotation des Armes den Organismus nicht mehr, sondern eher weniger an muskulärem Aufwand kosten. Bei gleichen abverlangten Drehmomenten muss schließlich für die Pronation stets weniger an physiologischem Aufwand als für die Supination investiert werden (Strasser & Wang 1998).
Nach Abschluss der Händigkeitsentwicklung werden unterschiedliche Erscheinungsformen der Händigkeit sichtbar. Es können Rechts- und Linkshändige, umgeschulte linkshändige Personen und Menschen mit ständig wechselndem, instabilem Handgebrauch unterschieden werden (vgl. Tabelle 1).
Tab 1: Übersicht über den Handgebrauch nach Abschluss des Händigkeitsmanifestationsprozesses (Vasterling et al. 2011)
Bei einer Umschulung des Handgebrauchs – insbesondere für komplexe Vorgänge wie das Schreiben – wird von einer erheblich erhöhten Beanspruchung der motorischen nicht-dominanten Gehirnhälfte und zu einer Fehlbeanspruchung der dominanten Gehirnhälfte ausgegangen. Dabei werden u.a. folgende Primär- und Sekundärfolgen mit Umschulungen in Verbindung gebracht (Vasterling et al. 2011):
Diese Auflistung beruht im Wesentlichen auf Beobachtungsstudien, wissenschaftlich quantitative Studien zu dieser Thematik und Untersuchungen über Umschulungen anderer Fertigkeiten liegen nicht vor. Es ist jedoch plausibel, dass insbesondere bei feinmotorischen Tätigkeiten vergleichbare erhöhte Beanspruchungen auftreten können.
Neben den zumeist frühkindlich umgeschulten Linkshändigen können auch Ereignisse im späteren Verlauf des Lebens dazu führen, dass die subdominante Hand Aufgaben der dominanten Hand übernehmen muss. Das ist beispielweise bei verletzungsbedingter Amputation oder Subamputation der dominanten Hand, bei krankheitsbedingten Einschränkungen der dominanten Hand durch Lähmungen (z. B. nach Schlaganfall) oder Mononeuropathien der Fall. Diese können ein Umschulen von der dominanten auf die subdominante Hand übergangsweise oder dauerhaft erfordern. Hierbei ist zu beachten, dass der zusätzliche physiologische Aufwand bei umgeschulten Personen (physiologische Arbeitskosten) erhöht sein kann. Weil die ursprünglich zuständige Hirnhemisphäre trotz Umschulung aktiv bleibt, kommt es zu einer zeitgleichen Aktivierung von graphomotorischen Arealen beider Hemisphären. Bei „forced hand use“ (= erzwungener motorischer Handgebrauch) ändert sich die entsprechende sensomotorische Arealform nicht, aber es wird an der Hirnoberfläche eine Änderung der Faltungslänge und Faltungstiefe sichtbar. Trotz des Rehabilitationserfolges bei Ausfall einer linksseitigen Funktion können umgeschulte Linkshändige keine vollständigen Rechtshändigen werden, sondern sie bleiben trotz „Umlerntrainings“ (Umschulung) in den kortikalen sensomotorischen Arealen des Gehirns Linkshändige, wie auch Sun et al. (2012) mit umgeschulten Linkshändigen zeigen konnten (vgl. Abschnitt 2.4).
Für die praktische Arbeitsmedizin kann es insbesondere folgende Anlässe zur Beschäftigung mit dem Thema Händigkeit geben:
Soweit Unfall oder Erkrankung eine Schwerbehinderung zur Folge haben, sind die Möglichkeiten der entsprechenden Unterstützung durch die Integrationsämter dafür mit zu nutzen.
Anforderungen an die Händigkeit dürfen dagegen nicht zum Eignungskriterium für einen Arbeitsplatz mit der Folge des Ausschlusses von Personen aufgrund ihrer Händigkeit führen und z. B. vor der Einstellung als Ablehnungskriterium genutzt werden, soweit sich daraus keine schwerwiegenden Folgen für die Sicherheit Dritter mit hoher Wahrscheinlichkeit ergeben. Eine Eignungsuntersuchung ist nur dann zulässig, wenn ihre Durchführung in einer speziellen Rechtsvorschrift auf gesetzlicher Grundlage ausdrücklich vorgeschrieben ist. Rechtliche Grundlagen finden sich dafür im Grundgesetz oder im Arbeitsschutzgesetz, welche auch in Bezug auf die Diskriminierung auf Grund von Linkshändigkeit zu berücksichtigen sind.
In allen Fällen sollte in die Gefährdungsbeurteilung eine Prüfung der Voraussetzungen der Arbeitsplätze für Linkshändige einbezogen werden und eine entsprechende ergonomische Arbeitsplatzgestaltung gefordert werden (siehe hierzu auch Kapitel 6).
Ob und in welchem Umfang die Lateralität tatsächlich Auswirkungen im Berufsalltag haben kann, welche Methoden angewendet und welche Konsequenzen sich daraus ergeben können, wird in diesem Abschnitt behandelt.
Die Kernfrage ist, ob gesundheitliche Probleme, reduzierte Leistungsfähigkeit oder sonstige Einschränkungen existieren, die im Zusammenhang mit der Händigkeit stehen können. Es ist als Prinzip der Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zu unterscheiden zwischen Konstellationen, bei denen
Die große Zahl unerkannter anlagebedingter linkshändiger Personen könnte zu der Vermutung führen, dass nicht alle von ihnen erkennbare berufliche Konflikte bei der Bewältigung der Arbeit mit rechtsseitig betonten Anforderungen haben. Andererseits gibt es keine für die fehlende Berücksichtigung von Lateralität spezifischen gesundheitlichen oder psychischen Symptome, die eine Erkennung von beruflichen Lateralitätskonflikten leicht machen würden. Bei erkannten Konflikten kann die Beratung durch spezielle Fachstellen2 hilfreich sein, soweit diese regional verfügbar sind.
Zur orientierenden Erkennung der Anforderungen an die Händigkeit können Beispiele aus dem „Dokumentationsbogen zur Händigkeitsabklärung S-MH®“ (Sattler 2002 und 2019) dienen. Konkrete Beispiele für die Händigkeit kennzeichnende Tätigkeiten anhand der Rubriken der Sattler-Methodik zu Händigkeitsfragen (= S-MH®) sind für die Tätigkeitsbereiche u.a.
Bei der Linkshändigkeit handelt es sich nicht um eine Krankheit, sondern um eine angeborene Eigenschaft des Menschen. Die Ermittlung der Händigkeit, die in der Regel mit dem Verdacht auf unerkannte Linkshändigkeit verbunden ist, sollte eigentlich bereits im Kindesalter erfolgen, um die Umschulung der Händigkeit zu vermeiden. Wenn im Rahmen der beruflichen Tätigkeit der Betriebsarzt mit dieser Fragestellung konfrontiert wird, so wird es in der Regel darum gehen, die
Notwendigkeit einer spezifischen Betreuung zu erkennen und diese anzustoßen, indem betroffene und beratende Person in Kontakt treten können.
Hierzu stehen verschiedene Verfahren zur Verfügung. Als grobes Screening Instrument ist beispielsweise das Verfahren nach Oldfield (Oldfield 1971) anerkannt und wird häufig verwendet. Deutlich differenzierter wird die Thematik im bereits im vorherigen Abschnitt 5.2.2 beschriebenen S-MH® Ansatz von Sattler (Sattler 2002 und Sattler 2019) aufgegriffen. Darüber hinaus sei nochmal auf die Beratung durch spezielle Fachstellen (vgl. Abschnitt 5.2.1) verwiesen.
Leistungstests zur Händigkeit erfassen insbesondere die Feinkoordination und Handlungsgeschwindigkeit, können aber unter experimentellen Bedingungen auch variable Bewegungsbereiche, Gewichtsbelastungen, Frequenzvorgaben, zusätzliche sensorische Belastungen u.a. einbeziehen.
Handleistungstests können nach verschiedenen Gesichtspunkten gruppiert werden (Steingrüber 1992):
Eine weitere Differenzierungsmöglichkeit ergibt sich aus der Berücksichtigung der hauptsächlich zugrunde liegenden physiologischen Leistungskomponenten (visuell gesteuerte Feinmotorik, Geschicklichkeit, Zeitempfinden, Reaktionsschnelligkeit u.a.). Bei positiv definierten Leistungen (Trefferzahl) ist ein standardisierter Dominanz-Index (DI) üblich, der von -1 (extreme Linkshändigkeit) bis +1 (extreme Rechtshändigkeit) variieren kann:
Mögliche Handleistungstests sind z. B.:
Eine Beschreibung dieser Verfahren einschl. Referenzwerte findet sich in Schmauder & Solf (1992). Anamnestische Hintergründe, also die Händigkeit beeinflussende Ereignisse im Leben des Probanden / der Probandin werden bei diesen rein auf die Messung der Leistung reduzierten Tests allerdings nicht berücksichtigt.
Auf Grund der Vielfalt möglicher Arbeitsanforderungen und Ausführungsbedingungen können für die händigkeitsgerechte Gestaltung von Arbeitsplätzen nur beispielhafte Anregungen gegeben werden. Um generell die Belastung des Hand-Arm-Systems bei manuellen Tätigkeiten zu ermitteln wird die Anwendung der Leitmerkmalmethode „Manuelle Arbeitsprozesse“ empfohlen (Steinberg et al. 2014). Neben den allgemeinen Empfehlungen zur ergonomischen Arbeitsplatzgestaltung (vgl. z. B. Laurig 1990, Becker et al. 1993, Schlick et al. 2010, Lange & Windel 2013, Schmidtke 2013, Schmauder & Spanner-Ulmer 2014) sollten spezifische Aspekte in Bezug auf die Händigkeit berücksichtigt werden. So kann man Arbeitssysteme in Bezug auf die Händigkeit klassifizieren:
Über die in Abschnitt 6.1 genannten generellen Empfehlungen hinaus, sollten im Bürobereich u.a. folgende Gestaltungsempfehlungen Berücksichtigung finden:
Über die in Abschnitt 6.1 genannten generellen Empfehlungen hinaus, sollten im Produktionsbereich an Montagearbeitsplätzen folgende Gestaltungsempfehlungen berücksichtigt werden:
Zur prospektiven ergonomischen Gestaltung von Montageplätzen haben sich das sogenannte Card-Board-Engineering (vgl. Abb. 1) oder Arbeitssimulationssoftwaretools bewährt. Hier lässt sich bereits vor der Konstruktion eines neuen Arbeitssystems prüfen, ob die Arbeitsabläufe wie geplant funktionieren können. Bei der Einbeziehung von Links- und Rechtshändigen bereits in dieser Phase lassen sich spätere Schwachstellen frühzeitig erkennen und vermeiden.
Über die in Abschnitt 6.1 genannten generellen Empfehlungen hinaus, sollten in Bereichen der Medizin u.a. folgende Gestaltungsempfehlungen Berücksichtigung finden:
Über die in Abschnitt 6.1 genannten generellen Empfehlungen hinaus, stehen bei Fahr- und Steuertätigkeiten u.a. folgende Gestaltungsempfehlungen im Vordergrund:
Literaturverzeichnis und Anhang s. Originalpublikation hier