Ursachen misslingender Schulkarrieren

Das Verfehlen von Leistungsmotivation als zentraler Bedingung
Hugo Gaudig

Hugo Gaudig, einer der Begründer der Arbeitsschulbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sprach von Arbeitsgefühlen und meinte damit jene Gefühle, die Kinder in schulischen Situationen erleben, etwa bei einer im Mathematikunterricht zugewiesenen Aufgabe.

  • Bei der Entgegennahme der Aufgabe ein Gefühl der Herausforderung, das Gefühl, etwas zu beginnen, ohne schon zu wissen, ob es gelingen wird.
  • Die Kinder machen sich daran herauszufinden, zuversichtlich und noch beklommen, was die Aufgabe von ihnen will.
  • Sie durchschauen mit wachsender Bestimmtheit, was sie tun müssen; sie spüren, dass sie Handlungsmacht über die Aufgabe gewinnen.
  • Die schließliche Fertigstellung führt zu einem Gefühl der Handlungsmacht und der Zufriedenheit mit sich selbst.Hugo Gaudig beschreibt damit die Wunschsituation der Lernarbeit, ein  mittleres Anspruchsniveau für jedes Kind : Die Aufgabe ist subjektiv schwer, aber mit Anstrengung ist sie zu bewältigen. Eine solche Herausforderung unterscheidet sich von der Unterforderung (d.i. die Aufgabe fordert von diesem Kind keine Anstrengung) oder der Überforderung (d.i. die Aufgabe kann von diesem Kind nicht bewältigt werden). Die frühen Erfahrungen, die das Kind mit Herausforderungen macht, steuern seine Lernbiografie. Wenn es einen Zusammenhang zwischen seiner Anstrengung und seinen Erfolgen erlebt, dann bildet es Selbsteinschätzungen und Erwartungen an sich selbst aus, die eine wesentliche Grundlage seiner persönlichen Identität und des weiteren schulischen Erfolges ausmachen: „Ich bin jemand, der mit Schwierigem fertig wird. Wenn ich mich bemühe, dann kann ich selbst schwere Aufgaben bewältigen.“

Diese Erwartung wird Leistungsmotivation genannt. Neben dem Interesse am Gegenstand des Lernens ist sie der wichtigste Grund dafür, dass ein Kind sich anstrengt. Das Motiv ist dabei rückbezogen auf das Selbst des Kindes; die Aufgabe sagt ihm etwas über dieses Selbst, nämlich dass es tüchtig ist. Anstrengungsbereite Kinder sammeln ständig erfreuliche Informationen über sich selbst.

Die Prinzipien der Leistungsmotivation (schwer, aber zu bewältigen) sind grundlegend für alle Erziehungsarbeit. In der Lernbiografie von Hochbegabten sind sie es vor allem, die eine Erklärung für die Schere zwischen den 80 % Erfolgreichen und den 20 % schwächer Leistenden geben. Pauschalierend argumentiert sind hochbegabte Kinder in der Schule von Herausforderungen ausgeschlossen. Die übliche Orientierung des Unterrichts an der Klasse statt am individuellen Kind  schließt die hoch und die schwach Leistungsfähigen, also die beiden Außenbereiche des Begabungsspektrums aus. Die einen kommen ohne Anstrengung zum Erfolg, die anderen haben auch mit Anstrengung keine Chance. Während Lehrerinnen und Lehrer üblicherweise die schwachen Schüler zu unterstützen bereit sind, missdeuten sie die Situation der hoch Leistungsfähigen als Privileg. Auch für diese Chancen zur Anstrengung bereitzustellen bedeutet  Aufwand.  Zwischen den Zielen, wenige Kinder individuell zu fördern oder Zeit und Kraft auf die vielen zu konzentrieren, entsteht damit ein Konflikt.
Leistungsmotivation

Die Aufgabe muss einerseits im Verhältnis zum Können des Kindes schwer sein, sie muss aber andererseits auch die Erwartung zulassen, dass es sie bewältigen können wird. Diese Balance zwischen Schwierigkeit und Können wird das „individuelle mittlere Anspruchsniveau“ genannt. Es ist für jedes Kind in jedem Fach zu bestimmen. Aufgaben dieser Art ermutigen zur Anstrengung, ja die Anstrengung wird als lustvoll erlebt, weil sie von der Erwartung unterlegt ist, dass sie schließlich zum Erfolg führt. Jeder Erfolg enthält auch eine Rückmeldung an den, der sich angestrengt hat: Du bist jemand, der in diesem Bereich (Deutsch, Mathematik, aber auch Wege finden oder Nägel einschlagen) mit Schwierigkeiten fertig wird, wenn du dich anstrengst. – Das ist ein Schritt der Identitätsentwicklung. Das Kind lernt über sich selbst im Verhältnis zu bestimmten Herausforderungen, sei es in Schulfächern oder im Leben. Die Wiederholung solcher Situationen in vielfältigen Bereichen führt dazu, dass sich die Selbsteinschätzung festigt und verallgemeinert. Ein Kind, das Erfolgszuversicht gelernt hat, wird schwierige Probleme anpacken und die Lösungsarbeit gegebenenfalls auch dann vorantreiben, wenn die Schwierigkeiten nicht gleich ausgeräumt werden können. Erfolgszuversicht ist ein wichtiger Teil des allgemeinen Selbstvertrauens.

Verstärkung von erlerntem Verhalten

Hier gilt: Siegen ist eine Gewohnheit, Verlieren ebenso. Aufgaben dieser Art ermutigen zur Anstrengung, ja die Anstrengung wird als lustvoll erlebt, weil sie von der Erwartung unterlegt ist, dass sie schließlich zum Erfolg führt. Jeder Erfolg enthält auch eine Rückmeldung an den, der sich angestrengt hat: Du bist jemand, der in diesem Bereich (Deutsch, Mathematik, aber auch Wege finden oder Nägel einschlagen) mit Schwierigkeiten fertig wird, wenn du dich anstrengst. – Das ist ein Schritt der Identitätsentwicklung. Das Kind lernt über sich selbst im Verhältnis zu bestimmten Herausforderungen, sei es in Schulfächern oder im Leben. Die Wiederholung solcher Situationen in vielfältigen Bereichen führt dazu, dass sich die Selbsteinschätzung festigt und verallgemeinert. Ein Kind, das Erfolgszuversicht gelernt hat, wird schwierige Probleme anpacken und die Lösungsarbeit gegebenenfalls auch dann vorantreiben, wenn die Schwierigkeiten nicht gleich ausgeräumt werden können. Erfolgszuversicht ist ein wichtiger Teil des allgemeinen Selbstvertrauens.

Die Plausibilität für die Bedeutung von Herausforderungen wurde in den letzten zwanzig Jahren auch durch neurobiologische Forschungsergebnisse untermauert. Wir folgen einem Bericht, den Henning Scheich, Leibniz-Institut für Neurobiologie in Magdeburg, gibt. Er berichtet von einer neurobiologischen Entsprechung der Leistungsmotivation: In der Phase 3 des oben beschriebenen Gefühlsverlaufs (Gewinnen von Handlungsmacht über die Aufgabe) komme es zu einem Dopaminausstoß. Er steigt in der Phase, in der die Lösungsstrategie ausgearbeitet wird und fällt danach wieder ab. Das Dopamin hält die Motivation aufrecht und stabilisiert das Aktivitätsniveau; aber es führt auch zu einer Ausschüttung von Opiaten. „Das Gehirn gibt sich also selbst eine Belohnung, bringt sich sogar in gute Stimmung, wenn es etwas gelöst hat.“
Aber nicht allein die Belohnung für Anstrengung ist die Folge, sondern mit der guten Stimmung steigt zugleich die Effizienz, denn das Dopamin ist auch wichtig für die Übertragung der Informationen vom Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis, also für den Einbau von zu Lernendem in den subjektiven Wissensvorrat. Mit den Worten von Henning Scheich: „Die plötzliche Einsicht in ein Prinzip geht mit der Ausschüttung von Stoffen einher, die Glücksgefühle signalisieren. Etwas nach langer Mühe gelernt zu haben, scheint Spaß zu machen, und dieser Spaß wird Schülern zu selten gegönnt. Wir glauben sagen zu können, dass dies ein fundamentaler Motivationsmechanismus beim Lernen und Problemlösen ist und zur Sicherung von Erfahrungen im Gedächtnis führt.“

Die Mitteilung über neurophysiologische Entsprechungen der Leistungsmotivation können in verschiedene Richtungen weitergedacht werden:

1. Der Zusammenhang von gelingender Anstrengung, Lernfreude und Gedächtniseffizienz ist so zu strukturieren: Die gelingende Anstrengung führt zu der gemeinsamen Bedingung aller drei Folgen; es ist der Dopaminausstoß, der das Glücksgefühl erzeugt, die Aktivität reguliert und an der Gedächtnissicherung mitwirkt. Es ist nicht, wie der pädagogische common sense glauben machen will, das Wohlgefühl, das Effizienz unterstützt oder zur Aktivität anregt. Dies bedeutet für das praktische Handeln einen wichtigen Unterschied, denn allzu oft wird aus der common sense Annahme gefolgert, dass Kinder, die nicht zur Anstrengung herausgefordert werden, sich wohler fühlen und demnach besser lernen.

2. Das Belohnungssystem des Gehirns wird für zwei Gruppen von Kindern ausgesetzt, für die hoch begabten und die schwach begabten. Ausgesetzt wird es durch den an der mittleren Begabung orientierten Einheitsunterricht für die gesamte Klasse. – Den schwach begabten Kindern gelingt die Lösung der Aufgabe nicht; daher bleiben ihnen die belohnenden Wirkungen vorenthalten. Henning Scheich zieht eine Parallele zwischen kindlichem Verhalten und den Mäusen seiner Tierexperimente: Sie tendierten, wenn sie keine Lösungswege fanden, dazu, zunächst aggressiv und danach passiv zu werden. Sie gerieten in eine Lethargie, aus der sie nur schwer wieder herauskamen, selbst wenn sich danach Erfolgserlebnisse einstellten. Diese Lethargie kann sich wie die Erfolgszuversicht auf andere Verhaltensweisen verallgemeinern (erlernte Hilflosigkeit).  –  Den hoch begabten Kindern wird keine Herausforderung geboten, deshalb erleben sie nicht die Gefühlsverläufe der Leistungsmotivation und können auch nicht eine allgemeine Erfolgszuversicht aufbauen – die Lösung subjektiv einfacher Aufgaben gibt dem Kind doch keine belohnende Rückmeldung. Biologisch betrachtet schütten ihre Gehirne bei der Lösung von schulischen Aufgaben kein Dopamin und keine Opiate aus.

Die scheinbar paradoxe Wirkung können misslingende Schulkarrieren sein – schwache Schüler trotz Hochbegabung. Zunächst ist die niedrige Leistung motivational bedingt. Die Kinder kommen im Unterricht mit, ohne sich anzustrengen; ihre Arbeit meldet ihnen nichts über sich selbst zurück. Während die Mitschüler zu Ihren Erfolgserlebnissen kommen, langweilen sie sich. Leider fällt ihren Lehrern aber noch nicht auf, dass sie nicht arbeiten, denn sie können durch bloßes Zuhören das aufnehmen, was sie brauchen. Erst im Verlauf der Grundschule kommt es zu lernstrukturellen Defiziten: Da das Kind keine Herausforderungen erlebt, erwirbt es auch keine persönlichen Strategien des Problemlösens und Lernens. Doch die Anforderungen steigen mit den Jahrgangsstufen und das gewohnte Spiel von Zuhören und Wiedergabe erweist sich als nicht mehr tragfähig. Das Kind verliert den Anschluss. Hochbegabte Kinder, denen in frühen Jahren nicht angemessene Aufgaben – Herausforderungen – gestellt werden, tragen das Risiko, dass sie nicht lernen zu lernen.

3. Die Mitteilungen aus der neurobiologischen Forschung haben nicht nur für die aktuelle didaktische Planung der Lehrkräfte Bedeutung. Sie bieten auch eine aus der Hochbegabung selbst folgende Erklärung für die biografische Entwicklung der Leistungsprobleme von hochbegabten Schulversagern. Bleibt Schule irrelevant, weil die Aufgaben nichts über den Schüler, der sich um sie bemüht, zurückmelden und weil die physiologische Selbstbelohnung nach Anstrengung als Weg zur Konditionierung des Lernens unwirksam bleibt, dann bleiben nur extrinsische Motive zur Steuerung des Leistungsverhaltens; diese sind aber kausal schwächer und über die Zeit weniger stabil, so dass die Gefahr einer Fehlentwicklung für jene gegeben ist, die nicht von einem Netz steuernder Motive, wie sie in Familien mit gelebter Bildung bestehen, auf Kurs gehalten werden.

Regelhafte Wirkungen einer verfehlten Leistungsmotivation

Wir sehen in unserer Beratung Kinder, die an der Schule ersticken. Sie langweilen sich und flüchten je nach persönlicher Ausrichtung in Tagträume, oppositionelles Verhalten, Leistungsverweigerung, Stellvertreterkriege in der Familie am Nachmittag oder psychosomatische Symptome. Über die Hausaufgaben wird die bedrängende Schulsituation in die Familien eingetragen und führt sehr oft zu einem Verschleiß der Beziehung zwischen Mutter und Kind (meist Sohn). Das gefürchtete „Nörgelmutter-Syndrom“ meint Mütter, die sich in bester Absicht bemühen, die Einbrüche, die ihr Kind in der Schule erlebt, durch Verhaltenshinweise, sorgfältige Begleitung der Hausaufgaben und des vorbereitenden Lernens abzuwenden. Das demotivierte Kind bleibt stundenlang über seinen Hausaufgaben hängen, die Mutter setzt Geduld und Drängen ein, um das Kind zur Erledigung zu bewegen. Dabei entwickeln sich Verstrickungen zwischen beiden, die für die weitere Entwicklung sehr belastend sind. Die Mütter berichten von sich, dass sie ihr Verhalten gegenüber dem Kind nicht mehr unter Kontrolle nehmen können. Bei diesem Hinweis geht es im Kern um den Bruch der Solidarität zwischen Mutter und Kind zugunsten einer Kooperation der Mutter mit der Schule.

Dieser Bruch beginnt meist in der Grundschule und führt mit wachsender Selbständigkeit dazu, dass die Mutter den erzieherischen Einfluss auf ihr Kind einbüßt. In dieser Konstellation verliert das Kind an Handlungsmacht sowohl in der Schule als auch in der Familie. Es reagiert mit Opposition und extremer Betonung der persönlichen Entscheidungsfreiheit. Situationen, die diesen Anspruch verletzen, provozieren bis hin zum Verlust der Impulskontrolle. Das Kind wechselt zwischen Lethargie – Schlichte-Hiersemenzel spricht in ihrer verdienstvollen Studie für das BMBF von „Gefühle auslöschen“ (S. 22) – und einer Wut, die eine Verhaltenssteuerung über sonst wirksame Motive außer Kraft setzt. Es fällt in seine Gegenwart. In extremen Fällen wie bei den Jugendlichen in unserer Sonderbeschulung für schulunfähige Hochbegabte hat die ausschließliche Gegenwartsorientierung und damit der Verlust des prospektiven Denkens zwischen einem halben und drei Jahren gedauert. Erst die Ablösung aus den geronnenen Beziehungen und die Beschulung unter Vermeidung der provozierenden Schulmerkmale macht eine solche Erziehungssituation wieder beweglich.

Das schwer lenkbare Verhalten des Kindes erhöht in der Schule die Gefahr der Vereinsamung. Die Kinder liegen zum Teil im Konflikt mit ihren LehrerInnen. Offenbar nicht nur in Einzelfällen kommt es dabei zu regelrechten Mobbings, – zum Beispiel indem eine Lehrerin erörtern lässt: Welche Strafe sollten wir X geben, damit er sich so verhält, wie wir es von ihm erwarten dürfen? (Bericht einer Mutter und der Lehrerin in unserer Ombuds-Stelle); oder – indem eine Gruppe von Klassenkameraden die Beiträge von X über Monate ironisch kommentiert, ohne dass der Rest der Klasse oder die Lehrkraft eingreifen; oder – verallgemeinernd von Schlichte-Hiersemenzel in der oben erwähnten Studie des BMBF, S. 22): „Unabhängig von den individuellen Umständen zieht sich durch die Berichte fast aller Ratsuchenden die Erfahrung von Ausgrenzung und Entwertung.“ Die so herabgesetzten Kinder werden von anderen gemieden und isolieren sich entweder oder gehen umgekehrt mit anderen Kindern, häufig mit außerschulischen Gruppen, Bindungen ein, die den emotionalen Stellenwert von Ersatzfamilien haben können (kompensatorisches Gruppenverhalten).

Fassen wir also hochbegabte Schulversager als gewissermaßen Resultate einer misslungenen Lernsozialisation auf, in deren Verlauf Anstrengungslust nicht angebahnt wurde, dann gilt im kausalen Ansatz: Nicht das Kind muss therapiert, sondern seine Leistungssituation muss verändert werden. Das ist ein Anspruch an die Schule, der auf Binnendifferenzierung geht. 

Sekundäre Symptome können sich entwickeln und in der kausalen Wirkung die primäre Ursache überlagern, vor allem Leistungsverweigerung, fehlende Verhaltenskontrolle, Störungen sowohl der Persönlichkeitsentwicklung als auch der familiären Achse Mutter-Kind („Nörgelmuttersyndrom“).  –  Die sekundären Symptome können bei rechtzeitiger Intervention durch Kontrolle der primären Ursache beseitigt werden. Bei allen Therapien und regulativen Maßnahmen in fortgeschrittenen Situationen gilt: Bei hochbegabten Kindern und Jugendlichen bleiben die therapeutischen Versuche an den Symptomen ohne Erfolg, wenn nicht die primäre Ursache ausgeräumt wird.

Zwei Erziehungsfehler, die das Risiko erhöhen

1. Verfehlen von Empathie und kommunikativer Einstellung

Schon der Neurobiologe Gerald Hüther (2002) hat den Grundgedanken der Leistungsmotivation mit sehr gewichtigen Verhaltenskonsequenzen, die weit über das Leistungsthema hinausgehen, verbunden. Gehen wir zurück zu unserer Feststellung, dass beim Lösen von schweren Aufgaben die Lösung immer auch eine ermutigende Botschaft an das Kind enthält: Du bist gut. Hochbegabte Kinder erleben sehr früh, dass sie erfolgreich handeln können. Entsprechend der motivierenden Wirkung entsteht ein starker Hang zum Ausprobieren; das Kind erobert, was ihm zugänglich ist und lernt zu wollen. Viele Eltern nehmen hieran keinen Anstoß, sondern werten diese Entwicklung im Gegenteil als Eigenständigkeit und Kreativität. Zum Risiko wird sie tatsächlich auch erst, wenn sie andere Verhaltensmöglichkeit außer Kraft setzt: die des Abbruchs durch Verbot oder die der Adaptation von Verhaltensweisen und Zielen, die von außen, etwa den Eltern, angeboten oder verlangt werden. Hüther macht auf eine notwendige Balance aufmerksam: Kinder brauchen sowohl angemessene Verbote als auch den für ihre Aktivitäten erforderlichen Freiraum zur Selbstbestimmung. Dass Eltern ihnen bestimmtes Verhalten erlaubten, anderes verböten, werde von ihnen um so leichter akzeptiert, je sicherer die emotionale Beziehung zu ihren Eltern sei.

Das ist eine wichtige und schwierige Forderung: eine sichere emotionale Beziehung. Wir erleben immer wieder Eltern, die ihren Kindern weitgehende Entscheidungsmöglichkeiten lassen in Dingen, die die kindliche Verantwortungsfähigkeit übersteigen. Freiheit, die überfordert, macht einsam und ängstlich. Eltern müssen den Mut finden, ihren Kindern einen Rahmen des nicht Verhandelbaren zu bieten, innerhalb dessen sie sich selbstbestimmt bewegen können. Sie sollen jene Probleme mit ihren Eltern gemeinsam lösen, die sie bereits durchschauen. Sie sollen in ihrem Drang zur selbstbestimmten Erkundung der Welt aber nicht die  Bereitschaft einbüßen, sich den Aufgaben zuzuwenden, die ihnen von anderen gestellt werden. Hüther führt in diesem Sinne aus, dass ein hemmungsloser Ich-Aufbau die Kinder hindere, ihre Lösungswege mit ihrer sozialen Umgebung zusammen zu finden und auf sie zu beziehen. Sie blieben „tyrannisch“. Zur Bewältigung der altersentsprechenden Aufgaben fehlten ihnen wichtige Ich-Funktionen wie Interesse an und Aufmerksamkeit für die Lösung anderer. Ihr Ich ist „überempfindsam und offen für alle gebotenen Reize. Oft fühlen sich diese Kinder überfordert, wenn sie in Kindergarten und Schule gezwungen werden, auf eine bestimmte Art zu denken und zu handeln. Sie sind insofern in ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung auf der Stufe eines Kleinkindes stehen geblieben.“ Für die zentrale Bedingung „Verfehlen der Leistungsmotivation“ bedeutet eine solche Entwicklungstendenz, dass die Kinder durch Unterforderung und Langeweile stärker gefährdet werden, weil ihre Toleranz für die Erfordernisse des am mittleren Anspruchsniveau orientierten langweilenden Einheitsunterrichts geringer ist.

2. Unordnung des Wissens

Hoch begabte Kinder verarbeiten pro Zeiteinheit mehr Information als weniger begabte. Diese Informationen können durch Lehrer oder Medien dargeboten, über Sinneswahrnehmung aufgenommen oder aus der eigenen Vorstellungswelt eingespielt werden. Aus der größeren Quantität ergeben sich auch höhere Anforderungen an die Selektion der Informationen, an deren Reduktion/Abstraktion und schließlich an die Integration in das bestehende Wissen. Diese Leistungen sind aber alle gebunden an die Strukturiertheit des vorhandenen Wissens und die methodische Organisation des geistigen Handelns. Hochbegabte Kinder und Jugendliche haben daher eine Tendenz zur intellektuellen Unordnung, deren Kompensation abhängig davon ist, dass ihre ordnenden Fähigkeiten mit der Menge ihrer Informationen in eine Balance gebracht werden. Die Informationsfülle aus eigenem Wissensvorrat fällt bei hochbegabten Kindern als problemerfindendes Denken auf. Wo andere Information entgegennehmen, spinnen hoch begabte den Gegenstand ein in ihre persönlichen Assoziationen, in Probleme, die aus ähnlichen Zusammenhängen hochkommen, in Fragestellungen auch, die sich aus Missverständnissen der wörtlichen Formulierung ergeben. Die aktiven Hinzufügungen zur Information sind bei Hochbegabten stärker ausgeprägt, neurobiologisch gesehen: die Vernetzungen zwischen den Informationen sind stärker, aber nicht immer besser geordnet als bei schwächer begabten Kindern.

Joseph Renzulli

Die Informationsfülle von außen wird – neben medialen Quellen – durch einen Fördergedanken weiter vergrößert, der nach unserem Eindruck zu unkritisch umgesetzt wird, den des Enrichment. Dabei geht es um die Idee, das was im undifferenzierten begabungsheterogenen Unterricht unzulänglich bleibt, in begabungshomogenen Lernangeboten nachzureichen. Schulen, die ihre hochbegabten SchülerInnen fördern wollen, entwickeln sogenannte Drehtürmodelle: Ein Kind ist in der Regelklasse, geht aber für bestimmte Angebote in spezifische Gruppen, die entweder von der Schule angeboten, schulübergreifend organisiert oder in Universitäten eingerichtet werden. Vereine und selbsternannte Veranstalter verdienen Geld, indem sie solche Gruppen auch außerschulisch einrichten. Leider wird oft die Freude, mit der hochbegabte Kinder auf einen nicht langweiligen fordernden Unterricht zugehen, mit Förderung verwechselt. Wie kann ein Kurs so angeboten werden, dass er geistige Unordnung nicht verstärkt und sogar ordnende Strukturen und intellektuelle Instrumente über das explizit Gebotene hinaus anlegt, also fördert? Renzulli, der das Drehtürmodell und den Enrichment-Gedanken mit eingeführt hat, hat darauf ganz klare Antworten, deren Quintessenz ist: Enrichment hat nicht primär das Ziel, inhaltlich anzureichern, sondern Arbeitserfahrungen zu ermöglichen, die zu besserer kognitiver Organisation führen. Die Deformierung dieses Gedankens zu einer Anhäufung von Kursangeboten entspricht der beklagenswerten Beobachtung, dass in unseren Schulen, wenn es um die Hebung des Leistungsniveaus geht, vor allem von der Vermessung von inhaltlichem Wissen anstatt von der Qualität des Denkens die Rede ist.

Enrichment in der Vorstellung von Renzulli

The Enrichment Triad Model consists of three types of enrichment: A significant feature of Renzulli’s Enrichment Triad model is that all students can work at the first two levels, and the activities generated within these levels support the third level. Type III activities are more appropriate for gifted students, as they allow for the generation of creativity. TYPE I- General Interest / Exploratory Activities These activities are designed to provide students with as wide a range of experiences as possible, and include excursions, club, interest centres, visiting speakers and brainstorming sessions TYPE II – Group Training Activities / Skills Development These activities are designed to develop thinking and feeling skills and students are involved in designing, experimenting, comparing, analysing, recording and classifying. Skills to be developed include creative and critical thinking, learning how to learn, using advanced level reference materials and communicating effectively. TYPE III – Individual and Small Group Investigation of Real Problems Students apply the knowledge and skills they have developed while working through Type I and Type II activities. They become investigators of real problems, working on specific areas of study towards presentation to a real audience. Activities include researching, debating, surveying, making a presentation, writing a journal article or producing a book or play.

Verfehlen von Leistungsmotivation, der Ausgangspunkt der Passungsstörung von hochbegabten Kindern und Jugendlichen.
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Enrichment in der bei uns (überwiegend) praktizierten Form ist vom Grundgedanken her eine Kompensation am falschen Ende. Die Balance zwischen ordnenden Fähigkeiten und Menge der Informationen wird auf der Seite der Informationen weiter gestört. Abschließend zu unserem Versuch, die Ursachen für misslingende Schulkarrieren von hochbegabten Kindern zu systematisieren auch diese zuletzt genannten Bedingungen im systematischen Zusammenhang:

„Verfehlen von Empathie und kommunikativer Einstellung“ in der frühen Kindheit und die „Unordnung im Wissensaufbau“ bei extensiv selbst erzeugtem, selbst zusammen gesammeltem und im Sinne eines unverstandenen Enrichment hinzugefügten Wissens sind hier als Randbedingungen eingetragen, die die Wirkungen aus der primären Bedingung „Verfehlen der Leistungsmotivation“ ungünstig moderieren. Solche moderierenden Bedingungen lassen sich weiter hinzufügen; die Auswahl hier folgte dem Prinzip, dass die genannten Bedingungen ursächlich aus vorliegender Hochbegabung heraus erklärbar sein sollen. In unseren Vorbemerkungen haben wir die hier systematisierten Bedingungen als Heuristik bezeichnet, um das kausale Modell eines Risikos zu entwerfen, dem 80 % der hochbegabten Kinder und Jugendlichen nicht verfallen. Aber sie sind ihm ausgesetzt. Wie wären ihre Lernbiografien verlaufen, wenn sie ab der ersten Klasse die Leistungsmotivation hätten aufbauen können, die aus anstrengendem und daher lustvollem Arbeiten entsteht? Wir können es nicht mehr zurücknehmen, sondern nur für die nachfolgenden Jahrgänge besser machen.

Das schulische Risiko der Hochbegabten ist nicht nur ein Problem derer, die daran scheitern, sondern es ist zugleich das Förderproblem schlechthin. Hochbegabtenförderung zielt auf Persönlichkeits-, nicht auf Wissensentwicklung, Leistungsmotivation auf den Aufbau von Selbstvertrauen, nicht auf Abrichtung zum vorzeigbaren Schüler. Dass es übrhaupt hochbegabte Schulversager gibt, ist ein lebendiger Vorwurf für unsere Schulen. Daher ist verständlich, dass sich die Bildungsverwaltung so schwer tut, sich öffentlich dieser Minderheit zuzuwenden. In unserer Sonderbeschulung bieten wir Hilfe an, um die Kinder, die abgestürzt sind, wieder in die Regelschule zurückzuführen. Doch alle Bemühung bleibt ohne Aussicht, wenn nicht dort Lehrerinnen und Lehrer in ihrem alltäglichen Unterricht darauf reagieren, dass sie in einer begabungsheterogenen Klasse unterrichten. Organisatorische Schulreformen haben kaum je den alltäglichen Unterricht erreicht; Reform kann nur aus dem Unterricht selbst heraus kommen. Schlichte-Hiersemenzel mahnt: „Der Zwang zum jahrelangen Absitzen von Zeit … kann in hoch begabten Kindern und Jugendlichen Ohnmachtsgefühle auslösen, die bis zur inneren und äußeren Abkehr von Schule und Gesellschaft führen können.“ Und sie setzt fort mit der Herausforderung an Schule, dass die Schulpflicht auch eine Pflicht der Schule zur Förderung der Verpflichteten einschließe (S. 22).

Literatur:

Barbara Schlichte Hiersemenzel (2001) Zu Entwicklungsschwierigkeiten hochbegabter Kinder und Jugendlicher in Wechselwirkung mit ihrer Umwelt. Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.

Gerald Hüther (2002) Wohin, wofür, weshalb? Über die Bedeutung innerer Leitbilder für die Hirnentwicklung. In: Pädagogisches Handeln, Heft 2, 2002. Vorabdruck aus Gerald Hüther (2002) Kinder suchen Orientierung. Walter-Verlag.

Joseph S. Renzulli (1977) The Enrichment Triad Model: A Guide for Developing Defensible Programs for the Gifted. Mansfield Center, CN: Creative Learning Press Joseph S. Renzulli and Sally M. Reis (2003) The Schoolwide Enrichment Model. Executive Summary.

Joseph S. Renzulli, Sally M. Reis, Ulrike Stedtnitz (2003) Das Schulische Enrichment Modell SEM, m. Begleitband. Aarau (Schweiz): Sauerländer

Henning Scheich,  Lern- und Gedächtnisforschung. o.J. Download am 16.10.2009.  http://studylibde.com/doc/6256028/henning-scheich-lern–und-ged%C3%A4chtnisforschung-schulentwic…