Leistungsmotivation

 

Hugo Gaudig

Hugo Gaudig, einer der Begründer der Arbeitsschulbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sprach von Arbeitsgefühlen und meinte damit jene Gefühle, die Kinder in schulischen Situationen erleben, etwa bei einer im Mathematikunterricht zugewiesenen Aufgabe. – Bei der Entgegennahme der Aufgabe ein Gefühl der Herausforderung, das Gefühl, etwas zu beginnen, ohne schon zu wissen, ob es gelingen wird; – die Kinder machen sich daran herauszufinden, zuversichtlich und noch beklommen, was die Aufgabe von ihnen will, – sie durchschauen mit wachsender Bestimmtheit, was sie tun müssen; sie spüren, dass sie Handlungsmacht über die Aufgabe gewinnen; – die Fertigstellung führt zu einem Gefühl der Handlungsmacht und der Zufriedenheit mit sich selbst. Diese Wunschsituation der Lernarbeit ist durch Herausforderung gekennzeichnet: Die Aufgabe ist für das Kind subjektiv schwer, aber es kann sie bewältigen. Eine Herausforderung unterscheidet sich darin von der Unterforderung (d.i. die Aufgabe fordert, nach subjektivem Erleben, von diesem Kind keine Anstrengung) oder der Überforderung (d.i. die Aufgabe kann, nach subjektivem Erleben, von dem Kind nicht bewältigt werden). Die frühen Erfahrungen, die das Kind mit Herausforderungen macht, steuern seine Lernbiografie. Kann es in der Regel einen Zusammenhang zwischen Anstrengung und Erfolg herstellen, dann bildet es Selbsteinschätzungen und Erwartungen aus, die eine wesentliche Grundlage seiner persönlichen Identität und des weiteren schulischen Erfolges ausmachen: „Ich bin jemand, der mit Schwierigem fertig wird. Wenn ich mich bemühe, dann kann ich selbst schwere Aufgaben bewältigen.“ (Das Mädchen scheint gerade einen solchen Satz zu denken.)
Diese Erwartung wird Leistungsmotivation genannt. Neben dem Interesse am Gegenstand des Lernens ist sie der wichtigste Grund dafür, dass ein Kind sich anstrengt. Das Motiv ist dabei rückbezogen auf das Selbst des Kindes; die Aufgabe sagt etwas über dieses Selbst, nämlich dass es tüchtig ist. Anstrengungsbereite Kinder sammeln ständig erfreuliche Informationen über sich selbst. Die Prinzipien der Leistungsmotivation sind grundlegend für alle Erziehungsarbeit. In der Lernbiografie von Hochbegabten sind sie es vor allem, die eine Erklärung für die Schere zwischen den 80 % Erfolgreichen und den 20 % schwächer Leistenden geben. Vom System her pauschalierend argumentiert sind hochbegabte Kinder in der Schule von Herausforderungen (im definierten Sinn) ausgeschlossen. Die übliche Orientierung des Unterrichts am mittleren Standard der Leistungsmöglichkeiten einer Klasse schließt beide Außenbereiche des Begabungsspektrums aus. Während Lehrerinnen und Lehrer die Folgen bei den schwachen Schülern durch Hilfeleistung zu mildern bereit sind, wenden sie gegen die Hochbegabten ihre Einschätzung, diese seien stark. Zwischen den Zielen, einzelne Kinder zu fördern oder Zeit und Kraft auf die vielen zu konzentrieren, entsteht damit ein Konflikt, der meist zu Lasten der Hochbegabten ausgeht.

Leistungsmotivation

Die Aufgabe muss einerseits im Verhältnis zum Können des Kindes schwer sein, sie muss aber andererseits auch die Erwartung zulassen, dass es sie bewältigen können wird. Diese Balance zwischen Schwierigkeit und Können wird das „individuelle mittlere Anspruchsniveau“ genannt. Es ist für jedes Kind in jedem Fach zu bestimmen. Aufgaben dieser Art ermutigen zur Anstrengung, ja die Anstrengung wird als lustvoll erlebt, weil sie von der Erwartung unterlegt ist, dass sie schließlich zum Erfolg führt. Jeder Erfolg enthält auch eine Rückmeldung an den, der sich angestrengt hat: Du bist jemand, der in diesem Bereich (Deutsch, Mathematik, aber auch Wege finden oder Nägel einschlagen) mit Schwierigkeiten fertig wird, wenn du dich anstrengst. – Das ist ein Schritt der Identitätsentwicklung. Das Kind lernt über sich selbst im Verhältnis zu bestimmten Herausforderungen, sei es in Schulfächern oder im Leben. Die Wiederholung solcher Situationen in vielfältigen Bereichen führt dazu, dass sich die Selbsteinschätzung festigt und verallgemeinert. Ein Kind, das Erfolgszuversicht gelernt hat, wird schwierige Probleme anpacken und die Lösungsarbeit gegebenenfalls auch dann vorantreiben, wenn die Schwierigkeiten nicht gleich ausgeräumt werden können. Erfolgszuversicht ist ein wichtiger Teil des allgemeinen Selbstvertrauens.

Hier gilt: Siegen ist eine Gewohnheit, Verlieren ebenso. Aufgaben dieser Art ermutigen zur Anstrengung, ja die Anstrengung wird als lustvoll erlebt, weil sie von der Erwartung unterlegt ist, dass sie schließlich

zum Erfolg führt. Jeder Erfolg enthält auch eine Rückmeldung an den, der sich angestrengt hat: Du bist jemand, der in diesem Bereich (Deutsch, Mathematik, aber auch Wege finden oder Nägel einschlagen) mit Schwierigkeiten fertig wird, wenn du dich anstrengst. – Das ist ein Schritt der Identitätsentwicklung. Das Kind lernt über sich selbst im Verhältnis zu bestimmten Herausforderungen, sei es in Schulfächern oder im Leben. Die Wiederholung solcher Situationen in vielfältigen Bereichen führt dazu, dass sich die Selbsteinschätzung festigt und verallgemeinert. Ein Kind, das Erfolgszuversicht gelernt hat, wird schwierige Probleme anpacken und die Lösungsarbeit gegebenenfalls auch dann vorantreiben, wenn die Schwierigkeiten nicht gleich ausgeräumt werden können. Erfolgszuversicht ist ein wichtiger Teil des allgemeinen Selbstvertrauens.

Henning Scheich

Die Plausibilität für die Bedeutung von Herausforderungen wurde in den letzten Jahren auch durch neurobiologische Forschungsergebnisse untermauert. Wir folgen einem Bericht, den Henning Scheich, Leibniz-Institut für Neurobiologie in Magdeburg, gibt. Er berichtet von einer neurobiologischen Entsprechung der Leistungsmotivation: In der Phase 3 des oben beschriebenen Gefühlsverlaufs (Gewinnen von Handlungsmacht über die Aufgabe) komme es zu einem Dopaminausstoß. Er steigt in der Phase, in der die Lösungsstrategie ausgearbeitet wird und fällt danach wieder ab. Das Dopamin hält die Motivation aufrecht und stabilisiert das Aktivitätsniveau; aber es führt auch zu einer Ausschüttung von Opiaten. „Das Gehirn gibt sich also selbst eine Belohnung, bringt sich sogar in gute Stimmung, wenn es etwas gelöst hat.“ Aber nicht allein die Belohnung für Anstrengung ist die Folge, sondern mit der guten Stimmung steigt zugleich die Effizienz, denn das Dopamin ist auch wichtig für die Übertragung der Informationen vom Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis, also für den Einbau von zu Lernendem in den subjektiven Wissensvorrat. Mit den Worten von Henning Scheich: „Die plötzliche Einsicht in ein Prinzip geht mit der Ausschüttung von Stoffen einher, die Glücksgefühle signalisieren. Etwas nach langer Mühe gelernt zu haben, scheint Spaß zu machen, und dieser Spaß wird Schülern zu selten gegönnt. Wir glauben sagen zu können, dass dies ein fundamentaler Motivationsmechanismus beim Lernen und Problemlösen ist und zur Sicherung von Erfahrungen im Gedächtnis führt.“

Die Mitteilung über neurophysiologische Entsprechungen der Leistungsmotivation können in verschiedene Richtungen weitergedacht werden:

  1. Der Zusammenhang von gelingender Anstrengung, Lernfreude und Gedächtniseffizienz ist so zu strukturieren: Die gelingende Anstrengung führt zu der gemeinsamen Bedingung aller drei Folgen; es ist der Dopaminausstoß, der das Glücksgefühl erzeugt, die Aktivität reguliert und an der Gedächtnissicherung mitwirkt. Es ist nicht, wie der pädagogische common sense glauben machen will, das Wohlgefühl, das Effizienz unterstützt oder zur Aktivität anregt. Dies bedeutet für das praktische Handeln einen wichtigen Unterschied, denn allzu oft wird aus der common sense Annahme gefolgert, dass Kinder, die nicht zur Anstrengung herausgefordert werden, sich wohler fühlen und demnach besser lernen.
  2. Das Belohnungssystem des Gehirns wird für zwei Gruppen von Kindern unterlaufen, für die hoch begabten und die schwach begabten. Unterlaufen wird es durch den an der mittleren Begabung orientierten Einheitsunterricht. – Den schwach begabten Kindern gelingt die Lösung der Aufgabe nicht; daher bleiben ihnen die belohnenden Wirkungen vorenthalten. Henning Scheich zieht eine Parallele zwischen kindlichem Verhalten und den Mäusen seiner Tierexperimente: Sie tendierten, wenn sie keine Lösungswege fanden, dazu zunächst aggressiv und danach passiv zu werden. Sie gerieten in eine Lethargie, aus der sie nur schwer wieder heraus kamen, selbst wenn sich danach Erfolgserlebnisse einstellten. Diese Lethargie kann sich wie die Erfolgszuversicht auf andere Verhaltensweisen verallgemeinern (erlernte Hilflosigkeit).  –  Den hoch begabten Kindern wird keine Herausforderung geboten, deshalb erleben sie nicht die Gefühlsverläufe der Leistungsmotivation und können auch nicht eine allgemeine Erfolgszuversicht aufbauen – die Lösung subjektiv einfacher Aufgaben sagt dem Kind doch nichts Belohnendes. Biologisch betrachtet schütten ihre Gehirne bei der Lösung von schulischen Aufgaben kein Dopamin und keine Opiate aus.

Die scheinbar paradoxe Wirkung können misslingende Schulkarrieren sein – schwache Schüler trotz Hochbegabung. Zunächst ist die niedrige Leistung motivational bedingt. Die Kinder kommen im Unterricht mit, ohne sich anzustrengen; ihre Arbeit meldet ihnen nichts über sich selbst zurück. Während die Mitschüler zu Ihren Erfolgserlebnissen kommen, langweilen sie sich. Leider fällt ihren Lehrern aber noch nicht auf, dass sie nicht arbeiten, denn sie können durch bloßes Zuhören das aufnehmen, was sie brauchen. Erst im Verlauf der Grundschule kommt es zu lernstrukturellen Defiziten: Da das Kind keine Herausforderungen erlebt, erwirbt es auch keine persönlichen Strategien des Problemlösens und Lernens. Doch die Anforderungen steigen mit den Jahrgangsstufen und das gewohnte Spiel von Zuhören und Wiedergabe erweist sich als nicht mehr tragfähig. Das Kind verliert den Anschluss. Hochbegabte Kinder, denen in frühen Jahren nicht angemessene Aufgaben – Herausforderungen – gestellt werden, tragen das Risiko, dass sie nicht lernen zu lernen.

  1. Die Mitteilungen von Scheich haben nicht nur für die aktuelle didaktische Planung der Lehrkräfte Bedeutung. Sie bieten auch eine aus der Hochbegabung selbst folgende Erklärung für die biografische Entwicklung der Leistungsprobleme von hochbegabten Schulversagern. Bleibt Schule irrelevant, weil die Aufgaben nichts über den Schüler, der sich um sie bemüht, zurückmelden und weil die physiologische Selbstbelohnung nach Anstrengung als Weg zur Konditionierung des Lernens unwirksam bleibt, dann bleiben nur extrinsische Motive zur Steuerung des Leistungsverhaltens; diese sind aber kausal schwächer und über die Zeit weniger stabil, so dass die Gefahr einer Fehlentwicklung für jene gegeben ist, die nicht von einem Netz steuernder Motive, wie sie in Familien mit unabhängig gelebter Bildung bestehen, auf Kurs gehalten werden.

Regelhafte Wirkungen einer verfehlten Leistungsmotivation

Wir sehen in unserer Beratung Kinder, die an der Schule ersticken. Sie langweilen sich und flüchten je nach persönlicher Ausrichtung in Tagträume, oppositionelles Verhalten, Leistungsverweigerung, Stellvertreterkriege in der Familie am Nachmittag oder psychosomatische Symptome. Über die Hausaufgaben wird die bedrängende Schulsituation in die Familien eingetragen und führt sehr oft zu einem Verschleiß der Beziehung zwischen Mutter und Kind (meist Sohn). Das gefürchtete „Nörgelmutter-Syndrom“ meint Mütter, die sich in bester Absicht bemühen, die Einbrüche, die ihr Kind in der Schule erlebt, durch Verhaltenshinweise, sorgfältige Begleitung der Hausaufgaben und des vorbereitenden Lernens abzuwenden. Das demotivierte Kind bleibt stundenlang über seinen Hausaufgaben hängen, die Mutter setzt Geduld und Drängen ein, um das Kind zur Erledigung zu bewegen. Dabei entwickeln sich Verstrickungen zwischen beiden, die für die weitere Entwicklung sehr belastend sind. Die Mütter berichten von sich, dass sie ihr Verhalten gegenüber dem Kind nicht mehr unter Kontrolle nehmen können. Bei diesem Hinweis geht es im Kern um den Bruch der Solidarität zwischen Mutter und Kind zugunsten einer Kooperation der Mutter mit der Schule.

Dieser Bruch beginnt meist in der Grundschule und führt mit wachsender Selbständigkeit dazu, dass die Mutter den erzieherischen Einfluss auf ihr Kind einbüßt. In dieser Konstellation verliert das Kind an Handlungsmacht sowohl in der Schule als auch in der Familie. Es reagiert mit Opposition und extremer Betonung der persönlichen Entscheidungsfreiheit. Situationen, die diesen Anspruch verletzen, provozieren bis hin zum Verlust der Impulskontrolle. Das Kind wechselt zwischen Lethargie – Schlichte-Hiersemenzel spricht von „Gefühle auslöschen“ (S. 22) – und einer Wut, die eine Verhaltenssteuerung über sonst wirksame Motive außer Kraft setzt. Es fällt in seine Gegenwart. Bei den Jugendlichen in unserer Sonderbeschulung für schulunfähige Hochbegabte hat die ausschließliche Gegenwartsorientierung und damit der Verlust des prospektiven Denkens zwischen einem halben und drei Jahren gedauert. Erst die Ablösung aus den geronnenen Beziehungen und die Beschulung unter Vermeidung der provozierenden Schulmerkmale macht eine solche Erziehungssituation wieder beweglich.

Das schwer lenkbare Verhalten des Kindes erhöht in der Schule die Gefahr der Vereinsamung. Die Kinder liegen zum Teil im Konflikt mit ihren LehrerInnen. Offenbar nicht nur in Einzelfällen kommt es dabei zu regelrechten Mobbings, – zum Beispiel indem eine Lehrerin erörtern lässt: Welche Strafe sollten wir X geben, damit er sich so verhält, wie wir es von ihm erwarten dürfen? (Bericht einer Mutter und der Lehrerin in unserer Ombuds-Stelle); oder – indem eine Gruppe von Klassenkameraden die Beiträge von X über Monate ironisch kommentiert, ohne dass der Rest der Klasse oder die Lehrkraft eingreifen; oder – verallgemeinernd von Schlichte-Hiersemenzel in der oben erwähnten Studie des BMBF, S. 22): „Unabhängig von den individuellen Umständen zieht sich durch die Berichte fast aller Ratsuchenden die Erfahrung von Ausgrenzung und Entwertung.“ Die so herabgesetzten Kinder werden von anderen gemieden und isolieren sich entweder oder gehen umgekehrt mit anderen Kindern, häufig mit außerschulischen Gruppen, Bindungen ein, die den emotionalen Stellenwert von Ersatzfamilien haben können (kompensatorisches Gruppenverhalten). Zusammenfassend eine Systematisierung der Risikofaktoren, die sich aus der primären Bedingung „verfehlte Leistungsmotivation“ ergeben.

Fassen wir also hochbegabte Schulversager als gewissermaßen Resultate einer misslungenen Lernsozialisation auf, in deren Verlauf Anstrengungslust nicht angebahnt wurde, dann gilt im kausalen Ansatz: Nicht das Kind muss therapiert, sondern seine Leistungssituation muss verändert werden. Das ist ein Anspruch an die Schule, der auf Binnendifferenzierung geht.

Sekundäre Symptome können sich entwickeln und in der kausalen Wirkung die primäre Ursache überlagern, vor allem Leistungsverweigerung, ADS-analoge Verhaltensweisen und Störungen der familiären Achse Mutter-Kind („Nörgelmuttersyndrom“). – Die sekundären Symptome können bei rechtzeitiger Intervention durch Kontrolle der primären Ursache beseitigt werden. Bei allen Therapien und regulativen Maßnahmen in fortgeschrittenen Situationen gilt: Bei hochbegabten Kindern und Jugendlichen bleiben die therapeutischen Versuche an den Symptomen ohne Erfolg, wenn nicht die primäre Ursache ausgeräumt wird.

Vgl. zu diesem Thema auch hier