Begabung, Intelligenz, Talent, Wissen, Kompetenz und Expertise: eine Begriffsklärung

Anne Deiglmayr, Lennart Schalk und Elsbeth Stern, 2017. In: Tests und Trends, Bd. 15, S. 1 – 16           
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Zusammenfassung

Unterschiedliche Leistungsfähigkeit von Menschen lässt sich mit einer Vielzahl von Begriffen be­schreiben. Wir werden sechs zentrale Begriffe diskutieren: Begabung, Intelligenz, Talent, Wissen, Kompetenz und Expertise. Außerdem streifen wir die Begriffe der Emotion und Motivation. Der Begriff der Intelligenz ist wissenschaftlich am klarsten definiert und am umfassendsten untersucht. Wissen, Kompetenz und Expertise haben ebenfalls eine wissenschaftlich definierte Bedeutung und werden insbesondere in der psychologischen und pädagogischen Forschung verwendet, um mensch­liche Leistungen beschreib- und messbar zu machen. Begabung und Talent dagegen sind eher all­tagssprachliche Begriffe. Es fehlt eine eindeutige Definition, vor allem in Abgrenzung zu den an­deren Begriffen. In diesem Kapitel bieten wir daher eine Arbeitsdefinition der Begriffe an, anhand derer eine konzeptuelle Abgrenzung möglich wird. Dadurch können wir die Begriffe anschließend in einen Entwicklungszusammenhang stellen, ihr Zusammenspiel am Beispiel schulischen Ler­nens illustrieren und kurz umreißen, was man wie — ausgehend von der konzeptuellen Abgrenzung — messen kann.

1.1      Abgrenzung der Begriffe Intelligenz, Begabung, Talent, Wissen, Kompetenz und Expertise

Die Begriffe zur Beschreibung menschlicher Leistungen decken verschiedene Gebiete ab. Für Schule und Beruf besonders wichtig sind Leistungen im kogniti­ven Bereich (z. B. allgemein beim Denken und Sprechen oder bei spezifischeren Prozessen wie Planen, Problemlösen, Schlussfolgern). Der wissenschaftliche Be­griff der Intelligenz bezieht sich allein auf diesen Bereich. Natürlich umfasst die Gesamtheit menschlicher Leistungen weit mehr als nur die kognitiven Fähigkei­ten: Menschen unterscheiden sich auch im emotionalen, sozialen, sportlichen, musischen, künstlerischen oder spirituellen Bereich. Allerdings lassen sich Leis­tungen in diesen Bereichen nicht annähernd mit der gleichen psychometrischen Qualität messen wie die genannten kognitiven Fähigkeiten. Der Begriff der In­telligenz sollte daher für den kognitiven Bereich reserviert bleiben (Stern & Neu­bauer, 2016). Hingegen kann man Menschen ein Talent, eine Kompetenz oder eine Expertise auch in anderen Bereichen zu- (bzw. ab-)sprechen.

Eine weitere Möglichkeit zur Abgrenzung der Begriffe ergibt sich über die Bedeu­tung der persönlichen Lerngeschichte bzw. der Umwelt einer Person. Auf der einen Seite geht man davon aus, dass Menschen über bestimmte genetische Dispositio­nen verfügen, welche — gemeinsam mit frühen Umwelteinflüssen und Erfahrun­gen — ihre grundlegende Begabung in bestimmten Bereichen definiert. Entschei­dend ist jedoch, ob und wie dieses Potenzial tatsächlich umgesetzt wird. Auf der anderen Seite ist gerade in Gebieten, die viel Wissen oder Übung benötigen, eine langfristige, intensive und motivierte Auseinandersetzung mit dem Gebiet entschei­dender als eine ursprüngliche Begabung. So schreibt man Menschen erst dann Ex­pertise in einem spezifischen Gebiet zu, wenn sie im Lauf einer langen Lernge­schichte relevantes Wissen und Kompetenzen erworben haben und auf dieser Basis kreative Lösungen für Probleme in bestimmten Gebieten produzieren können.

1.1.1 Ein Überblicksschema

In Abbildung 1.1 geben wir ein Überblicksschema für die sechs zentralen Begriffe Begabung, Intelligenz, Talent, Wissen, Kompetenz und Expertise. Es werden Zu­sammenhänge der Begriffe untereinander sowie mit den für die Beschreibung des menschlichen Lernens ebenfalls notwendigen Konzepten Emotion und Motiva­tion visualisiert. Stärker von der individuellen genetischen Disposition abhängige Konzepte sind in der Abbildung weiter oben, stärker durch die persönliche Lern­geschichte beeinflusste Konzepte weiter unten abgebildet. Verhaltensnahe Kons­trukte (Kompetenzen, Expertise) sind in eckige Kästen gesetzt; Konstrukte, wel­che zugrundeliegende Potenziale und motivationale Einflüsse umschreiben, sind in Kästen mit abgerundeten Ecken gesetzt.

 

Der Begriff Begabung bezieht sich auf das größtenteils genetisch determinierte Potenzial eines Menschen zur Erzielung hoher Leistungen in einem Bereich, un­abhängig davon, ob das Potenzial auch realisiert und in Leistungen umgesetzt wird (Stern & Neubauer, 2016). Unterschiedliche Begabungen sind in allen Leis­tungsbereichen denkbar, in denen Unterschiede zwischen Menschen bestehen. Dazu gehören mathematische, sprachliche und visuell-räumliche Begabungen, aber auch soziale und motorische (z. B. als Grundlage für sportliche Leistungen) sowie künstlerische Begabungen.

Der Intelligenz liegt eine Begabung in kognitiven Bereichen zugrunde. Diese Be­gabung entwickelt sich in förderlichen Umweltbedingungen — also in solchen mit vielfältigen Lerngelegenheiten — zu denjenigen kognitiven Fähigkeiten, wel­che als Intelligenz bezeichnet werden (Nisbett, Aronson, Blair, Dickens, Flynn, Halpern & Turkheimer, 2012). Intelligenz umfasst mathematische oder rechne­rische, sprachliche und visuell-räumliche Fähigkeiten, aber auch diesen zentra­len Faktoren untergeordnete speziellere Faktoren wie das Fortsetzen von Zah­lenreihen, das Verständnis verbaler Analogien und Metaphern oder die Fähigkeit, geometrische Objekte mental zu rotieren. Zudem werden in einigen Intelligenz­modellen auch noch spezifischere Operationen wie Gedächtnis bzw. Merkfähig­keit, Verarbeitungsgeschwindigkeit, Verarbeitungskapazität und Einfallsreichtum mit einbezogen. Unabhängig von den verschiedenen Modellen gilt Intelligenz je­doch als die realisierte Begabung im kognitiven Bereich, die wiederum in den Erwerb von Wissen und Kompetenzen investiert werden kann (Neubauer & Stern, 2007; Stern & Neubauer, 2013).

Als Talent bezeichnen wir die realisierte Begabung in einem nicht kognitiven Be­reich. Dieser Begriff ist wissenschaftlich weniger exakt definiert als Intelligenz. Wir verwenden den Talentbegriff, um dem auf den kognitiven Bereich beschränk­ten Begriff der Intelligenz einen entsprechenden Begriff für den nicht kognitiven Bereich entgegenzusetzen. Dies entspricht einer traditionellen, aber auch in der Literatur nicht immer systematischen Aufteilung in akademische Bereiche, in welchen vor allem eine hohe Intelligenz gefordert ist, und nicht akademische Be­reiche wie Musik, Kunst oder Sport, in welchen vor allem bestimmte Talente ge­fordert sind (vergl. Winner, 2000). Analog zur Intelligenz braucht auch Talent eine bestimmte zugrundeliegende Begabung, die als Potenzial durch den Erwerb von Wissen und motiviertes Üben in Kompetenzen umgesetzt werden kann (Si-monton, 2000). Sowohl Intelligenz als auch Talent werden im Alltag erst dann relevant, wenn sie einer Person über den Erwerb von deklarativem und prozedu-ralem Wissen das Entwickeln bestimmter Kompetenzen ermöglichen (Anderson, 2005).

Wissen und Kompetenzen lassen sich als zwei Seiten einer Medaille auffassen. Wissen beschreibt die im Langzeitgedächtnis gespeicherten Repräsentationen der wahrgenommenen Welt, der konstruierten abstrakten Bedeutungen sowie der eigenen Handlungsoptionen und -prozeduren. Individuelles Wissen zeigt sich in der Bewältigung von Anforderungen in den verschiedenen Begabungsbereichen, die sich aus der jeweiligen Lebenswelt ergeben — wie bspw. Erwartungen der Bil­dungsinstitution oder Sportvereine — an denen eine Person partizipiert. Es muss eine Antwort gegeben oder ein Verhalten gezeigt werden, um der Anforderung gerecht zu werden (z. B. eine Aufgabe ausrechnen, eine Antwort in einem Mul-tiple-Choice ankreuzen, einen Beitrag in einer Diskussion leisten, eine Präsen­tation erstellen, koordinierte motorische Handlungen ausführen). Dieser beo­bachtbare Umgang mit Anforderungen, die sich aus der jeweiligen Lebenswelt ergeben, kann als Kompetenz bezeichnet werden. Während Wissen also nicht di­rekt beobachtet werden kann, lässt es sich aus den gezeigten Kompetenzen indi­rekt erschließen. Hohe Intelligenz wie hohes Talent drücken sich in einem schnel­len und leichten Erwerb von Wissen aus, das sich in Kompetenzen manifestiert. Niedrige Intelligenz oder niedriges Talent erklären, warum Wissen und Kompe­tenzen in bestimmten Bereichen nur mühsam oder sogar gar nicht erworben wer­den können.

Der Begriff der Kompetenz spielt in der Schule eine zunehmend wichtige Rolle (Jude, Hartig & Klieme, 2008). Für alle Schulfächer werden derzeit Kompeten­zen als Leitlinien und Maßstab für den schulischen Unterricht definiert. Kompe­tenzraster, also die Beschreibung von Kompetenzen auf unterschiedlichen wis-sensbasierten Verständnisniveaus, sollen Lehrpersonen dabei helfen, Lernziele festzulegen und ihre Unterrichtsmethoden sowie Leistungsbewertungen entspre­chend zu entwerfen und abzustimmen. Kompetenzen sind immer auf das Lösen von Problemen beziehungsweise auf das Bewältigen von Anforderungen in be­stimmten Inhaltsbereichen bezogen; sie zeigen sich in Handlungen — dem Be­antworten einer Mathematikaufgabe, dem Schreiben eines Aufsatzes, oder dem Ausführen eines Elfmeters. Um Kompetenzen definieren und Aufgaben zu ihrer Messung entwickeln zu können, muss der Inhaltsbereich und das Lernen in die­sem umfassend bekannt sein.

Expertise ist schließlich das Ergebnis einer langen Phase informellen und formel­len (institutionalisierten) Lernens, während der eine breite Wissensbasis und zahl­reiche Kompetenzen in einem bestimmten Gebiet erworben wurden. Überdurch­schnittliche Intelligenz und Talent können den Erwerb von Expertise erleichtern (Hambrick, Macnamara, Campitelli, U116n & Mosing, 2016). Auch Menschen mit besten Voraussetzungen müssen jedoch viel Zeit und Mühe aufwenden — in der Wissenschaft spricht man von „deliberate Practice“ (Ericsson, Krampe & Tesch-Romer, 1993) — um Wissen zu erwerben, Kompetenzen aufzubauen und zu Ex­perten zu werden. In der Hochbegabungsforschung wird der Begriff der Exper­tise durch den Begriff der Eminenz bzw. eminenten Kreativität ergänzt: Eminenz kennzeichnet Experten, welche in ihrem jeweiligen Feld nicht nur technisch per­fekte, sondern außergewöhnliche und innovative Leistungen erbringen und so zu seiner Weiterentwicklung beitragen (Subotnik, Olszewski-Kubilius & Worrell, 2011; vgl. auch Winner, 2000). Expertise ist aber eine unerlässliche Vorausset­zung für Eminenz, welche wiederum nur von wenigen Experten erreicht wird.

1.1.2 Entwicklung: Von der Begabung zur Expertise

Menschen unterscheiden sich in ihren genetisch determinierten Begabungen. Von den genetischen Anlagen bis zur Entwicklung von Kompetenzen und gar Exper­tise ist es jedoch ein weiter Weg. Das erfolgreiche Beschreiten dieses Weges ist das Resultat einer dynamischen, wechselwirkenden Entwicklung von Anlage und Umwelt.

Das in Abbildung 1.1 veranschaulichte Überblicksschema stellt Begabung als (ge­netisch determiniertes) Potenzial dar. Dieses Potenzial muss in Wissen und Kom­petenzen ausdifferenziert werden, um sich im Verhalten, Denken und Erleben einer Person zu zeigen. Begabung lässt sich nicht direkt messen. Aufgrund des in Wissen und Kompetenzen realisierten Ausmaßes an Intelligenz (kognitiv) und Talent (z. B. sportlich, künstlerisch, sozial) lässt sich allerdings indirekt auf eine zugrundeliegende Begabung zurückschließen. Ohne entsprechende Begabung sind weder hohe Intelligenz noch besonderes Talent zu erwarten. Passende und fordernde Lerngelegenheiten sind essenziell, wenn es um die Entwicklung kon­kreter Kompetenzen geht. Wenn eine hohe Intelligenz oder ein Talent entwickelt wurde, dieses aber trotz vorhandener (meist institutioneller) Lerngelegenheiten aus unterschiedlichen Gründen nicht in Kompetenzen umgesetzt wurde, spricht man von Minderleistern (englisch: underachiever; Hofer & Stern, in press).

Kompetenzen sind grundsätzlich spezifisch für bestimmte Anwendungsberei­che. Sie können nur innerhalb eines Anwendungskontexts entwickelt werden, denn Kompetenzen liegt immer eine Basis an relevantem, weitgehend inhalts­spezifischem Wissen zugrunde. Es gibt allerdings Unterschiede darin, wie breit Anwendungsbereiche von Kompetenzen sind. Manche Kompetenzen sind für einen klar begrenzten Inhaltsbereich relevant, sie sind inhaltsspezifisch. Hierzu gehören beispielsweise die Kompetenz, Befehle in einer bestimmten Program­miersprache zu schreiben, oder die Kompetenz, am Reck einen Felgumschwung auszuführen. Andere Kompetenzen sind breiter anwendbar. Sie sind inhaltsüber­greifend und entsprechend weniger konkret definierbar; hierzu gehören bei­spielsweise die Kompetenz zur Selbstregulation, die Kompetenz, neue Informa­tionen kritisch zu bewerten, die Kompetenz, ein wissenschaftliches Experiment durchzuführen oder die Kompetenz, durch argumentative Diskussionen zur in­haltlichen Klärung eines Problems oder Konflikts beizutragen. Dennoch gibt es unabhängig von der spezifischen Anwendungssituation Kriterien, anhand derer sich inhaltsübergreifende Kompetenzen wie z. B. gute Argumentation oder ef-fektive Konfliktlösung messen lassen. Dies ist möglich, weil Strukturähnlich­keiten zwischen oberflächlich ganz unterschiedlichen Problemsituationen (etwa zwischen verschiedenen Konflikten) bestehen, welche den Anwendungskontext dieser breit definierten Kompetenzen ausmachen. Allerdings bleibt auch diesen breit definierten, inhaltsübergreifenden Kompetenzen inhaltspezifisches Wissen unerlässlich: Man kann weder gut argumentieren (Argumentierkompetenz) noch einen Konflikt lösen (Konfliktlösungskompetenz), ohne auf inhaltliches Wissen zurückzugreifen. Tatsächlich ist gerade für die Entwicklung breit anwendbarer, inhaltsübergreifender Kompetenzen der Erwerb einer inhaltsspezifischen Wissensbasis unabdingbar.

Expertise in einem Fachgebiet setzt eine Reihe von relevanten Kompetenzen und, ihnen zugrunde liegend, eine breite, effizient strukturierte Wissensbasis voraus. In der Expertiseforschung werden Erkenntnisse gewonnen, indem man Exper­ten nicht mit Laien, die sich mit dem jeweiligen Fachgebiet weder auskennen noch sich damit beschäftigt haben, sondern mit sogenannten Novizen vergleicht. Novizen bringen Grundkenntnisse in dem jeweiligen Gebiet mit und können ein­fache Anforderungen bewältigen, haben aber nur einen Bruchteil der Zeit inves­tiert und sind deshalb weit von Höchstleistungen entfernt.

Wie unterscheidet sich das Wissen von Experten und Novizen? Am Beispiel von Schachspielern (Simon & Chase, 1973) oder Ärzten (Schmidt & Rikers, 2007) konnte gezeigt werden, dass Experten ihr Wissen sehr viel stärker verdichtet haben (man spricht von Chunking oder Bündelung; mehr dazu in Abschnitt 2) und des­halb auf einen Blick mit komplexen Situationen umgehen können (Chi & VanLehn, 2012). Experten haben zudem komplexe Handlungen prozeduralisiert. Sie kön­nen komplexe Handlungen automatisiert ausführen, wobei kognitive Kapazität frei bleibt und für weitergehende Problemlösung(en) genutzt werden kann: Ein erfahrener Koch (Experte) kann einen rohen Fisch mit großer Geschwindigkeit entschuppen, ausnehmen und sich nebenbei über die Art der Zubereitung Gedan­ken machen, während ein Hobbykoch (Novize) akribisch darauf achten muss, die Galle nicht zu verletzen und deshalb vergisst, dass die Bohnen gerade verkochen. In akademischen Gebieten macht sich der Unterschied zwischen Novizen und Ex­perten vor allem im Begriffswissen bemerkbar. Novizen orientieren sich zumeist an oberflächlichen Charakteristika; Experten orientieren sich an definitorischen und theoriegeleiteten abstrakten Merkmalen (Chi & VanLehn, 2012). Experten können deshalb Gemeinsamkeiten zwischen oberflächlich sehr unterschiedlichen Ereignissen und Situationen sehen: So sind für einen Physiker ein Stausee, ein gespannter Bogen und eine Batterie vergleichbar, da alle drei Situationen Bei­spiele für die Speicherung von Energie darstellen.

Expertise ist allerdings kein sinnvoller Begriff zur Beschreibung der Leistung in allgemeinbildenden Schulen. Die Aufgabe der Schule besteht darin, Kompeten­zen zu vermitteln, welche einen Grundstein für die spätere Entwicklung von Ex­pertise legen. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen werden die mathemati­schen Kompetenzen der besten Schülerin am Ende ihrer Schulzeit nicht an die des Lehrers und schon gar nicht an die einer Mathematikprofessorin heranrei­chen. Aber die Schülerin verlässt die Schule mit sehr guten Chancen, bei weite­rem Lerneinsatz in den Kreis der Experten vorzudringen. Ihrem Alter und dem Allgemeinbildungsanspruch geschuldet bleiben Schüler universelle Novizen, deren Leistungsunterschiede in den einzelnen Fächern sich am besten mit dem Kompetenzbegriff beschreiben lassen.

1.2        Zusammenspiel innerhalb eines Kontextes: Erwerb von Wissen und Kompetenzen in der Schule

Das Ziel schulischen Lernens ist in der Regel der Erwerb von Wissen und Kom­petenzen. Ziel ist eine anwendbare Wissensbasis, welche sich in kompetenter Problemlösung in relevanten Inhaltsgebieten ausdrückt. Der Erwerb von Wissen, Kompetenzen und Expertise ist — wie oben beschrieben — das Ergebnis einer In­teraktion zwischen den Potenzialen Begabung, Intelligenz und Talent einerseits, sowie Angeboten der Umwelt in informellen und formellen Lernsituationen an­dererseits. Eine individuelle Lerngeschichte steht zudem in Zusammenhang mit motivationalen Faktoren (siehe Abschnitt 3), denn Begabung muss in einem lang­fristigen und manchmal mühsamen Prozess in den Erwerb von Wissen und Kom­petenzen investiert werden (Schweizer & Koch, 2002).

Gleichzeitig gilt: die zuverlässigste Vorhersage zukünftiger (Lern-)Leistungen in einem Bereich lässt sich aus den bereits erworbene Wissensinhalten und Kom­petenzen in diesem Bereich ableiten. Insbesondere im Bereich kognitiver Fähig­keiten wurde die zentrale Rolle des Vorwissens für den weiteren Wissenserwerb empirisch immer wieder nachgewiesen: Die Qualität und Quantität des beste­henden Wissens sagt gleich gut oder sogar besser als Intelligenz den weiteren Wissenserwerb voraus (Neubauer & Stern, 2007; Schneider, 2008). Warum dies so ist, hat mit der Architektur der menschlichen Informationsverarbeitung — vor allem dem Arbeitsgedächtnis — und grundlegenden Lernprozessen zu tun.

1.2.1 Die Rolle des Arbeitsgedächtnisses im Lernprozess

Als Flaschenhals der menschlichen Informationsverarbeitung wird das Arbeits­gedächtnis angesehen (Cowan, 2014). Hier werden eingehende Informationen aus der Umwelt verarbeitet und dabei mit bereits im Langzeitgedächtnis gespei­cherten Inhalten verknüpft. Die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses ist beschränkt; es kann jeweils nur eine bestimmte, relativ niedrige Anzahl von Informations­einheiten bearbeiten. Die individuelle Arbeitsgedächtniskapazität kann als Po­tenzial angesehen werden, also als eine Begabung, welche positiv mit der Intel­ligenz korreliert und sich über lange Zeit entwickelt (Cowan, 2016). Ähnlich wie Intelligenz ist auch die Arbeitsgedächtniskapazität vermutlich relativ stark bio­logisch festgelegt; direkte Trainings der Kapazität zeigten sich als wenig erfolgs­versprechend (Schwaighofer, Fischer & Bühner, 2015; Redick, Shipstead, Wie-mers, Melby-Lervag & Hulme, 2015).

Wir wählen ein grundlegendes Beispiel, um die Rolle des Arbeitsgedächtnisses für das Lernen zu illustrieren. Wenn eine Schülerin lesen lernt, dann muss sie zu­nächst Buchstaben und die mit ihnen verbundenen Laute kennenlernen. Danach lernt sie über einen langen Zeitraum, wie sich Buchstaben zu Wörtern, Sätzen, Kapiteln und schlussendlich ganzen Büchern sinnstiftend kombinieren (lassen). Eine Schülerin am Anfang ihrer Lesekarriere braucht ihre gesamte Arbeitsge-dächtniskapazität, um die Buchstaben eines Wortes zu identifizieren; Kapazität für die Analyse der Bedeutung des Wortes, geschweige denn für die Bedeutung eines Satzes bleibt zunächst nicht. Durch ausführliches Training jedoch wird die Buchstabenerkennung automatisiert, im Laufe der Zeit werden ganze Bündel von Buchstaben und sogar ganze (Neben-)Satzkonstruktionen gespeichert und kön­nen ohne große Arbeitsgedächtnisbelastung abgerufen werden. Ein Beispiel: Jdeer knan desien Staz lseen, owbhol smältihce Beusctahben — asuesr dem etsern und lzetetn — vtreacusht snid.

Durch lange Auseinandersetzung mit Inhalten und der Ausbildung entsprechen­der Strukturen im Langzeitgedächtnis kann also die Automatisierung von Hand­lungen (hier dem Lesen oder im weiter oben genannten Beispiel die Zubereitung eines Fisches) erreicht werden. Mit der Zeit können immer komplexere Bündel (sogenannte „chunks“) von Informationen verarbeitet, gespeichert und abgeru­fen werden. Obwohl die Arbeitsgedächtniskapazität nicht größer wird, kann somit immer mehr und komplexere Information verarbeitet und letztlich gelernt wer­den. Das Lernen neuer Inhalte und der Erwerb neuer Kompetenzen in einem be­stimmten Bereich fällt daher umso leichter, je mehr Vorwissen und je mehr Kom­petenzen (beispielsweise im Sinn automatisierter Prozeduren) eine Person bereits aus ihrem Langzeitgedächtnis abrufen und an je mehr Gedächtnisinhalte sie be­reits anknüpfen kann. Wenn eine Schülerin gut lesen kann und sie sich schon ausführlich mit klassischer Mechanik auseinander gesetzt hat, dann wird es ihr leicht fallen, einen komplexen Text zu Einsteins konzeptueller Erweiterung der klassischen Mechanik zu verstehen.

1.2.2 Bündelung, Automatisierung und Umstrukturierung als Grundlagen des Wissens- und Kompetenzerwerbs

Bündelung („Chunking“) und Automatisierung, wie am Beispiel des Lesenler­nens im letzten Abschnitt beschrieben, sind zwei grundlegende Prozesse, wel­che die Effizienz der Informationsverarbeitung im Arbeitsgedächtnis erhöhen. Eine solche Effizienzsteigerung ist die Grundlage kompetenten Handelns, egal in welchem Bereich. Zwar wurde die zentrale Rolle des Arbeitsgedächtnisses vor allem für schulisch relevante Lernaufgaben untersucht; seine zentrale Rolle für die menschliche Informationsverarbeitung bedeutet jedoch, dass die Bün­delung und Automatisierung auch dem Erwerb beispielsweise musikalischer, motorischer und ästhetischer Kompetenzen zugrunde liegt. So spielen Bünde­lung und Automatisierung eine große Rolle beim Erwerb von flüssigen Bewe­gungsabläufen, beispielsweise beim Autofahren, im Sport, bei handwerklichen Tätigkeiten in Beruf und Haushalt (z. B. Kochen), oder beim Spielen eines In­strumentes.

Neben diesen effizienzsteigernden Prozessen ist zudem eine ständige Umstruk­turierung von Wissen notwendig, um Kompetenzen zu erlangen. Oben haben wir geschildert dass sich Novizen und Experten häufig an unterschiedlichen Merk­malen orientieren. Dies lässt sich auf eine Umstrukturierung des Begriffswissens zurückführen. Diese Umstrukturierung läuft (nicht nur in schulischen Kontex­ten) häufig von oberflächlichen zu definitorischen Merkmalen (Stern, 2006). De-finitorische Merkmale sind meist theoriegeleitet, wobei die Theorie oft relatio-naler Natur ist. Ein ganz grundlegendes relationales Prinzip ist bspw. das Konzept der Summe. Hat jemand verstanden, dass die Summe das Ergebnis einer Addi­tion zweier oder mehrerer beliebiger Mengen ist, kann eine Summe aus allen Mengen gebildet werden, die man zusammenzählen möchte, auch aus Äpfeln und Birnen.

Das Wissen kompetenter Schüler bleibt natürlich nicht bei derartigen einfachen Relationen stehen. Vielmehr müssen in der Schule zunehmend komplexere re-lationale Systeme gelernt und verstanden werden (Goldwater & Schalk, 2016). Denken wir bspw. an das Nachvollziehen des komplexen Handlungsstranges eines Dramas oder an Eulers Formulierung des zweiten Newtonschen Gesetzes F= m x a. Ein Verständnis dieses Gesetzes sowie die Kompetenz, es zur Lösung von physikalischen Problemen anzuwenden — ein zentrales Lernziel, das im Phy­sikunterricht erreicht werden soll — erfordert von einem Lernenden, den Begriff Kraft F nicht alltagssprachlich charakteristisch als Muskelkraft zu verstehen, sondern als multiplikative Relation aus Masse m und Beschleunigung a. Hier muss also der Begriff der Kraft umstrukturiert werden. Zudem steht zwar der Begriff Masse mit dem Begriff Gewicht in Beziehung, meint aber nicht das all­tagssprachliche „schwer sein“ — zusätzlich ist also auch die Umstrukturierung des Gewichtsbegriffs erforderlich. Schließlich ist Beschleunigung an sich ein relationales Konzept, welches zudem das ebenfalls relationale Konzept der Geschwindigkeit umfasst. Wissen über und Kompetenzen im Umgang mit derartig komplexen relationalen Konzepten zu erwerben, ist eine grundle­gende Anforderung schulischen Lernens.

Sind nun die Lernprozesse der Bündelung, Automatisierung und Umstrukturie­rung nur wichtig für den Wissens- und Kompetenzerwerb in typischen Bildungs­kontexten? Nein — auch ein Tennisspieler muss verschiedene Schläge kennenler­nen, diese zur Perfektion automatisieren, damit er sich während des Spielens Gedanken darüber machen kann, wie er Schläge kombiniert, um den Gegner unter Druck zu setzen und einen Punkt zu erzielen. Begabungen wie hohe Intel­ligenz für den schulischen Kontext oder Bewegungstalent für sportliche Betäti­gungen können den Wissens- und Kompetenzerwerb beschleunigen, jedoch ist dafür immer eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Inhalten (Newton oder Tennisschläge) notwendig.

1.3       Die Rolle der Motivation

Der Erwerb von Wissen und Kompetenzen ist ein langwieriger Prozess, der be­wusstes Üben gerade solcher Kompetenzen, welche (im Moment noch) schwer fallen, und eine produktive Auseinandersetzung mit eigenen Fehlern und Wis­senslücken erfordert (Ericsson et al., 1993). Das kann anstrengend und zuweilen auch frustrierend sein. Lernende benötigen daher nicht nur Begabung und Vor­wissen, sondern auch eine gute Emotionsregulation, Motivation und Persistenz, um ihr Wissen konstant weiter auszubauen oder umzustrukturieren. Motivation ist eine unabdingbare Voraussetzung sowohl für den Erwerb von Kompetenzen als auch für deren tatsächliche Anwendung und somit das Realisieren des eigenen Leistungspotenzials. Weinert (2001) ging sogar so weit, die „motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlö­sungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (S. 27), als integralen Bestandteil seiner Definition von Kompetenz zu postulieren. Empirisch sind Motivation und Lernstrategien besonders relevant für die Vorhersage des langfristigen Erfolgs in einem Leistungsbereich, wie Längsschnittuntersuchungen zeigen konnten (Murayama, Pekrun, Lichtenfeld & vom Hofe, 2013).

Was aber motiviert Menschen zum Lernen und Üben? Nach der Selbstbestim­mungstheorie der Motivation (Deci & Ryan, 1985; Ryan & Deci, 2000) speist sich die Motivation zum Erwerb und der Anwendung von Kompetenzen aus drei grundlegenden menschlichen Bedürfnissen: Kompetenzerleben, Autonomie und soziale Eingebundenheit. Zunächst einmal sind Menschen von Natur aus bestrebt, sich selber als kompetent wahrzunehmen und auch von anderen so wahrgenom­men zu werden. Eng damit verbunden ist das Bedürfnis, das eigene Handeln als selbstbestimmt und selbstverursacht zu erleben. Ein Missverständnis ist es aller­dings anzunehmen, Menschen könnten nur aus „intrinsischer“ — allein aus der Tätigkeit selber kommender — Motivation heraus wirklich nachhaltig motiviert werden. Deci und Ryan (1985) postulierten ein Kontinuum von vollkommen fremdgesteuertem (extrinsisch motiviertem) bis vollkommen selbstgesteuertem (intrinsisch motiviertem) Handeln. Etwa in der Mitte dieses Kontinuums befin­den sich solche Handlungen, die durch internalisierte, d. h. als Teil der eigenen Identität empfundene, Werte und Ziele motiviert werden (z. B. eine gute Schüle­rin sein; in die Fußballmannschaft aufgenommen werden). Auch wenn diese Mo­tivation nicht im engen Sinn „intrinsisch“ ist, so ist sie in der Realität doch sehr wirkmächtig. Das dadurch motivierte Verhalten wird als selbstbestimmt erlebt. Zusätzlich zum Bedürfnis, sich als kompetent und autonom handelnd zu erleben, wollen Menschen zudem Teil einer Gemeinschaft sein. Das Bedürfnis nach so­zialer Eingebundenheit ist auch einer der Gründe, weshalb internalisierte Werte und Ziele, welche in der Regel den Normen einer bestimmten sozialen Gemein­schaft (z. B. Familie, Klassengemeinschaft, Sportmannschaft, …) entsprechen, so wirkmächtig sind.

Wie motiviert Menschen sind, Zeit und Anstrengung in den Erwerb von Kompe­tenzen zu investieren, hängt schließlich auch von ihrer Erfolgserwartung ab. Je sichererer sich eine Person ist, dass ihre Anstrengung letztendlich zur Verbesse­rungen der eigenen Kompetenzen führen wird, desto motivierter wird sie sein, sich auch tatsächlich anzustrengen (Rheinberg & Vollmeyer, 2012). In der Psy­chologie werden solche Erwartungen beispielsweise durch das Konstrukt der Selbstwirksamkeitserwartung (Bandura, 1977), durch eine internale-variable At­tribution von Erfolg auf eigene Anstrengung (Weiner, 1985), oder durch die grundsätzliche Überzeugung von der Verbesserbarkeit der eigenen Fähigkeiten durch Anstrengung (Dweck & Master, 2008) umschrieben.

Um die eigene Anstrengungsbereitschaft langfristig aufrechtzuerhalten, Persis-tenz zu zeigen, ist es weiterhin notwendig, gezielt sogenannte volitionale Stra­tegien einzusetzen (Heckhausen, 1980). Dazu gehört beispielsweise, positive Erwartungen zu generieren und zu pflegen, mit Rückschlägen und daraus resul­tierenden negativen Emotionen umzugehen und die aktuelle Handlung gegen­über möglicherweise konkurrierenden Handlungstendenzen abzuschirmen. Auch selbstregulativen und metakognitiven Kompetenzen liegt aber spezifisches Wis­sen zugrunde: beispielsweise das Wissen um die Funktionsweise des eigenen Ge­dächtnisses oder das Wissen um geeignete Strategien, um sich in einem bestimm­ten Kompetenzbereich zu verbessern (Bjork, Dunlosky & Kornell, 2013). Die eingesetzten selbstregulativen Kompetenzen (z. B. Ablenkungsregulation, Emo-tionskontrolle, Selbstmotivierung) wirken sich wiederum positiv auf den Erwerb weiterer inhaltsspezifischer Kompetenzen aus (Pintrich & de Groot, 1990).

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Ohne langfristige Anstrengungsbereit­schaft und aktive Selbstregulation können Wissen und Kompetenzen oder gar Expertise nicht erworben werden. Defizite im Potenzial (Begabung, Intelligenz, Talent) lassen sich bis zu einem gewissen Grad durch ein Mehr an Anstrengung ausgleichen. Jedem Menschen stehen jedoch nur in begrenztem Umfang Zeit und Lerngelegenheiten zur Verfügung, um diese Kompetenzen tatsächlich zu erwer­ben. Spätestens mit Verlassen der allgemeinbildenden Schule müssen wichtige persönliche Entscheidungen getroffen werden, in welche Kompetenzbereiche es sich lohnt, die eigene Anstrengung zu investieren. Kompetenzen sind somit immer auch das Resultat mehr oder weniger bewusst getroffener Investitionsentschei­dungen (Ziegler, Stern & Neubauer, 2012).

1.4       Was kann man messen?

Nachdem wir nun die grundsätzlichen Begriffe definiert und voneinander abge­grenzt haben, deren Zusammenspiel beleuchtet haben, können wir uns der Frage zuwenden, was man eigentlich messen kann. Was bedeutet es, wenn jemand als intelligent, talentiert oder kompetent beschrieben wird?

1.4.1 Wie manifestiert sich Begabung?

Begabung selbst ist nicht messbar, sondern manifestiert sich im Rahmen des Wis­senserwerbs in Lern- und Anwendungsgelegenheiten zunächst in Form von In­telligenz (kognitiv) bzw. Talent (nicht kognitiv). Die Entwicklung und Struktur der Intelligenz stehen seit langer Zeit im Fokus der Wissenschaft. Sie ist mittler­weile so gut untersucht (Stern & Neubauer, 2016), dass objektive, reliable und valide Messverfahren entwickelt werden konnten. Messverfahren zur Erfassung von Talenten stehen in ähnlicher Qualität noch nicht zur Verfügung, auch wenn man dort Fortschritte macht (Silvia, 2015; vgl. auch weitere Kapitel in diesem Band). Die Erfassung von Talent in einem bestimmten Bereich ist am ehesten über Verfahren zur Messung von bereichsspezifischen Kompetenzen möglich, welche in Relation zu Lern- und Übungsgelegenheiten gesetzt werden: eine hohe Kompetenz bei durchschnittlichen oder sogar schlechten Lern- und Übungsmög­lichkeiten würde dann für ein hohes Maß an zugrundeliegendem Talent sprechen; dieselbe Kompetenz bei guten und anregenden Lern- und Übungsmöglichkeiten für ein niedrigeres Maß an Talent.

Letztendlich beruht jede Messung von Leistung und Leistungspotenzial auf dem beobachtbaren Verhalten von Testpersonen in konkreten Situationen. Zu unter­scheiden sind einerseits die tatsächliche gezeigte Leistung und die potenziell mögliche, aber eventuell aus verschiedenen situationsbedingten Gründen nicht abgerufene Kompetenz. Testleistung ist somit immer nur ein Schätzwert für Kom­petenz (wenn auch im Idealfall ein sehr reliabler und valider). Kompetenzen sind einfach das verhaltensnächste Konstrukt, um Leistung zu beschreiben. Um von Kompetenzen auf zugrundeliegende Merkmale wie Wissen oder sogar Intelli­genz, Talent und Begabung zu schließen, sind theoretische Modelle und eine sorgfältige Testkonstruktion notwendig. Im Zusammenhang mit der begrifflichen Klärung in diesem Kapitel interessiert uns dabei vor allem, welche Verteilung der durch die Begriffe beschriebenen Merkmale theoretisch angenommen wird. Hier geht es also um die Fragen, ob man bspw. nicht intelligent sein kann oder ab wann man eigentlich Experte ist.

1.4.2 Welche Verteilung wird angenommen?

Während man bei Konzepten wie Begabung und Intelligenz von einer Normal­verteilung ausgeht, wird die Zuschreibung von Expertise oder gar Eminenz eher im Sinne einer Entweder-Oder-Kategorisierung (einer Dichotomisierung) vor­genommen. Die Ausprägung von multifaktoriell bedingten Merkmalen folgt in der Natur oft der sogenannten Normalverteilung. Auch den meisten Messmo­dellen zur Erfassung von Leistung und Leistungspotenzial bei Menschen liegt entsprechend die Annahme einer Normalverteilung zugrunde. Zumindest in Bezug auf Begabung, Intelligenz und Talent, welche das Leistungspotenzial eines Menschen beschreiben, dürfte dies unstrittig sein (Stern & Neubauer, 2016). Im Sprachgebrauch dagegen werden Adjektive wie „begabt“, „intelli­gent“ oder „talentiert“ meist im Sinne eines Gegensatzpaares verwendet: man ist talentiert, oder man ist es nicht. Hier wird also eine Dichotomisierung eines normalverteilten Merkmales vorgenommen, wobei das Kriterium, ab wann eine Person beispielsweise als „begabt“ zu gelten hat, oftmals nicht klar definiert ist. Wenn Forscherinnen und Forscher eine Dichotomisierung vornehmen, z. B. um „Hochbegabte“ zu identifizieren, so wählen sie in der Regel einen Abschnitt der Normalverteilung (bei Hochbegabung wären dies die obersten 2 oder 3 %), gehen also nach einer sozialen Bezugsnorm vor. Denkbar ist jedoch auch eine krite-riale Bezugsnorm, wonach das Erfüllen bestimmter Mindestkriterien zu errei­chen wäre, um eine Person beispielsweise als „talentiert“ oder „begabt“ zu be­zeichnen (Rheinberg, 2008).

Kompetenzen sind, von den hier vorgestellten Begriffen, am stärksten verhaltens­nah und inhaltsspezifisch definiert. Tests und Leistungsproben können verwendet werden, um kompetentes Verhalten in einem bestimmten Inhaltsgebiet erfassbar zu machen und Veränderungen als Folge von Lernen und Erfahrung zu markie­ren. Kompetenzen lassen sich zwar durch inhaltbezogene Tests messen, aber An­nahmen über die Verteilung sind kein integraler Bestandteil dieser Tests, da die Leistung von den Lerngelegenheiten abhängig ist. Um Veränderungen zuverläs­sig messen zu können, strebt man in den Skalen von Kompetenztests eine so ge­nannte Rasch-Skalierung an. Entsprechend konstruiert man die Items so, dass möglichst viele Personen, die eine schwierige Aufgabe lösen, auch möglichst viele der leichteren Aufgaben lösen können. Wenn dies der Fall ist, handelt es sich um eine gut beschreibbare Kompetenzdimension, auf der ein Individuum eine mehr oder weniger hohe Ausprägung zeigt. In detaillierten Kompetenzrastern lässt sich abbilden, welche Kompetenzen eine Person zuverlässig zeigen kann und welche nicht. Anhand solchermaßen bestimmter Kompetenz-Profile kann man verglei­chen, über welche Kompetenzen spezifische Personen verfügen (soziale Bezugs­norm), erkennen, welche individuelle Entwicklung eine Person durchgemacht hat (individuelle Bezugsnorm) und abgleichen, ob ein Kompetenzprofil zu einem bestimmten Anforderungsprofil passt (kriteriale Bezugsnorm). Testentwickler benötigen jedoch umfassende und detaillierte inhaltliche Kenntnisse des Kom­petenzbereichs (z. B. anhand von Aufgabenanalysen) und müssen qualifizierte Werturteile fällen können, um entsprechende Kompetenzmodelle und -raster zu erstellen (Hartig & Klieme, 2006).

Expertise oder gar Eminenz in einem bestimmten Gebiet schließlich sind per de-finitionem einem kleinen Teil der Bevölkerung vorbehalten (Hambrick et al., 2016; Subotnik et al., 2011). Sie sind damit im Kern ebenfalls nicht dimensio­nal konzipiert und werden in der Forschung in der Regel im Sinn einer Dichoto­mie (z. B. Experten vs. Novizen) verwendet. Die Definitionskriterien für „Exper­tise“ sind dabei uneinheitlich und wenig eindeutig; in der Literatur wird neben der herausragenden Leistung beim Lösen neuartiger Probleme in einem bestimm­ten Inhaltsbereich beispielsweise auch die investierte Lernzeit als definitorisch für Expertise angesehen (Ericsson et al., 1993). Zentral ist jedenfalls auch hier die Erfassung tatsächlich gezeigter Kompetenzen — allerdings innerhalb holisti­scher Modelle, welche neben bereichsspezifischen Kompetenzprofilen von Ex­perten auch Kriterien wie die individuelle Lerngeschichte, die Motivation, die Kreativität und die geleistete Innovation einer Person enthalten (Hambrick et al., 2016; Subotnik et al., 2011).

1.5       Was folgt?

Aus gutem Grund nimmt das Wissen in unserem Ordnungsschema (Abb. 1.1) einen zentralen Platz ein. Intelligenz und Talent sowie die ihnen zugrundeliegenden Begabungen als das Potenzial eines Menschen werden nur dann alltagsrelevant und messbar, wenn sie in einem — oft langwierigen — Lernprozess in Wissen in­vestiert werden, welches sich in Form von Kompetenzen manifestiert. „Wissen“ steht hier für die Inhalte und Gegenstände, mit denen Menschen „kompetent“ in­teragieren. Inhaltslose Trainings, also abstrakte, grundlegende Trainings von In­telligenz und Talent können nicht funktionieren. Trainings können zwar zur Ver­besserung der Leistung in einem bestimmten Test führen (wenn genau diese Leistung trainiert wurde) — Transfereffekte im Sinn einer insgesamt gesteigerten Begabung, sei es Intelligenz oder Talent, sind durch solche Trainings aber nicht zu erwarten. Gute Lernangebote und Bildungssysteme, die auf den Aufbau in­haltsspezifischen Wissens abzielen, können aber durchaus zu der Entwicklung von inhaltsübergreifenden Kompetenzen beitragen und den Grundstein für die Entwicklung von Expertise legen. Die von uns angebotene konzeptuelle Begriffs­klärung und -abgrenzung soll helfen, dies konzeptuell nachzuvollziehen.

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