Welche Thesen ergeben sich derzeit aus den dokumentierten Inhalten?
These 1 (Bezug: Texte zur Psychologie und Neurobiologie)
International wird zur Zeit (2025) an Beziehungen zwischen Gehirnentwicklung im Jugendalter und Hochbegabung geforscht. Dabei gilt als gesichert, dass die Entwicklungsverläufe in Abhängigkeit von dem kognitiven Potential verschieden sind.
Das bedeutet für die Praxis, dass langfristig unveränderbare Persönlichkeitsmerkmale mit dem Niveau der kognitiven Befähigung verbunden sind, die für einen binnendifferenzierten Unterricht ebenso berücksichtigt werden müssen wie weitere soziale und Persönlichkeitsmerkmale.
These 2 (Bezug: Forschung Psychopathologische Entwicklungen und Forschung zu neuroanatomischen Unterchieden im Gedächtnissystem)
Ein Befund betrifft die für alle Begabungsstufen gegebenen Reorganisationsvorgänge des Gehirns (Synapsenreduktion, Pruning) bei Auftreten von aktuellen umfangreichen kognitiven Herausforderungen. Entwicklungsmarker sind die Zeitspannen zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr (Vorschulalter) und zwischen dem neunten und elften Lebensjahr (Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule). Für beide biografische Sequenzen gilt, dass unter Einwirkung von Stress die Reorganisation gestört werden kann, dass damit das Risiko für Fehlverschaltungen erhöht und auf der Phänomenebene psychopathologische Entwicklungen eingeleitet werden können. Dieser Zusammenhang ist in Deutschland u.a. bereits 2002 von Prof. Dr. A.K. Braun beschrieben worden, 2006 im National Institute of Mental Health, Bethesda USA, von Prof. Dr. Ph. Shaw detailliert ausgearbeitet worden und 2022 in einer großen internationalen Studie weiter differenziert worden. – Die riskanten bzw. sensiblen Phasen verschieben sich in Abhängigkeit von der kognitiven Befähigung (IQ), schwächer Begabte reorganisieren früher als höher Begabte. Shaw fand für Hochbegabte einen mittleren Wert von 11,6 Jahren.
Das bedeutet für die Praxis, dass die vierjährige Grundschule für alle Kinder eine Phase gesteigerter Herausforderung um das zehnte Lebensjahr setzt. Stressmildernde Routinen bei der Überleitung der Grundschüler erhalten unter diesem Gesichtspunkt ein besonderes Gewicht. Weiter bedeuten diese Ergebnisse, dass hochbegabte Kinder in der 5. und 6. Jahrgangsstufe noch vor dem ordnenden und effizienzsteigernden Umbau ihres Gehirns stehen, den die normalbegabten bereits bewältigt haben. Diese Entwicklungsspanne ist daher besonders riskant.
These 3 (Bezug: Forschung zu neuroanatomischen Unterchieden im Gedächtnissystem)
Ein anderer Befund betrifft Unterschiede in der Lern- und Gedächtnisorganisation zwischen Hochbegabten und Normalbegabten. Auch diese sind als Persönlichkeitsmerkmale aufzufassen, die weitere Hinweise dafür geben, wie Kinder mit verschiedenen Begabungen im Unterricht und in ihrer Verhaltensentwicklung gefördert werden können. Im Vordergrund steht hier der Gegensatz von explizitem (Hochbegabung) und impliziten (Normalbegabung) Lernen und Gedächtnis bzw. die entsprechenden Variationen im Spektrum dazwischen.
Das bedeutet für die Praxis die Einführung weiterer begabungsabhängiger Persönlichkeitsmerkmale. In dieser Studie wird eine aufsehenerregende Chance angesprochen, dass nämlich die Diagnostik über bildgebende Verfahren eingesetzt werden könnte, um die individuellen Lern- und Gedächtnisprofile und damit die persönlichen Förderbedingungen zu ermitteln.
These 4 (Bezug: Begriffserklärung zu LemaS)
Das große Projekt der gegenwärtigen deutschen Bildungspolitik, die Bund-Länder-Initiative „Leistung macht Schule“, ist eine Reaktion auf die enttäuschenden PISA Befunde. Das Projekt beschäftigt Tausende von Menschen in wissenschaftlichen Einrichtungen, Stiftungen und Vereinen, in Lehrerbildungsinstituten der Ersten und Zweiten Ausbildungsphase, in Versuchs- und Regelschulen.
Die Projektbeschreibungen meiden den Hochbegabtenbegriff und ersetzen ihn durch „Hochleistend“. Als Bedingung für Hochleistung wird auf Begabung verwiesen. Sodann wird der Begabungsbegriff – neben der kognitiven Befähigung (Hochbegabung) – erweitert um Persönlichkeitsmerkmale, die lernförderlich sind, z.B. Ausdauer, Motivation.
Hochbegabung wird aber nicht nur als Begriff gemieden, sondern als Persönlichkeitseigenschaft marginalisiert. Unter den Hochleistenden sind keineswegs Kinder mit Hochbegabung die Mehrheit; für die Gruppe der Hochleistenden hat die Marburger Hochbegabtenstudie (Prof. Rost) einen durchschnittlichen IQ von 116 gefunden!
Dieser Marginaliisierung entspricht, dass in „Leistung macht Schule“ die Förderung der Persönlichkeit ergänzend zur Förderung der kognitiven Fähigkeit konzipiert wird, anstatt – wie es konsistent mit den aktuellen Forschungsergebnissen wäre – kognitive Effizienz/Hochbegabung als Ursache von Persönlichkeitsmerkmalen anzusetzen. Dabei wird überraschend festgestellt, dass ein stärker herausfordernder Unterricht die kognitiven Grundfähigkeiten verbessern könnte.
Das bedeutet für die Praxis, dass Lehrerinnen und Lehrer vor Ort für die Aufgabe, die als ihr wichtigstes Ziel genannt wird, die individuelle Förderung, mit möglicherweise unzutreffenden Annahmen über Ursache und Wirkung ausgestattet werden.
These 5 (Bezug: KMK Förderstrategie für Leistungsstarke)
Begabungsförderung meint – verstanden mit der Begrifflichkeit von „Leistung macht Schule“ – die Förderung in der Breite, um diejenigen Kinder zu identifizieren, die potentiell Hochleistende werden können. Die Förderung dieser Kinder und der bereits als hochleistend Identifizierten erfolgt oder soll erfolgen mit dem Instrumentarium der zurückliegenden Hochbegabtenförderung (Enrichment, Akzeleration …) . Hier besteht das Problem, dass diese Förderinstrumente bislang unzureichend evaluiert worden sind. Prof. Schneider auf der Berlinger Tagung zu „Leistung macht Schule“ (2015):
„Grundsätzliches Problem: Bei vielen Fördermaßnahmen ist nicht gesichert, dass sie zu bedeutsamen Lernfortschritten bei der Zielgruppe führen. Leider kann also nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass eine solide Planung alleine schon positive Befunde erzeugt.“
Das bedeutet für die Praxis, dass eine Evaluation der seit zwei Jahrzehnten üblichen Fördermaßnahmen nachzuholen ist. Um die umfangreiche empirische Forschung aus den Vereinigten Staaten als Beleg zu verwenden, müssten die Maßnahmen jenen, die unter gleichem Namen in den Vereinigten Staaten praktiziert werden, angepasst werden (das in Deuschland praktiziert Enrichment weicht zum Beispiel von dem Enrichment ab, das Renzulli vor 30 Jahren vorgeschlagen hat und das seitdem in seinen Wirkungen gut erforscht ist. Es fehlt fast immer Enrichment 2, oft auch 3. Ähnlich verhält es sich mit weiteren Methoden wie etwa dem Compacting.)
These 6 (Bezug: Goldmann. Unter Lehrkräften)
Der entscheidende Schritt jeder Bildungsinnovation wird am Schreibtisch der Lehrkraft vollzogen, die sich auf ihren Unterricht vorbereitet. Hier geschieht die Umarbeitung des Zielzusammenhangs in die Handlungsplanung. Die Erfahrung zeigt, dass die Handlungsplanung unterhalb der Reformwellen eine hohe Kontinuität aufweist. Die Tübinger Lehrerstudie arbeitet heraus, welche Mechanismen in Kollegien zur Abwehr von Innovationen führen – und sie ist damit nur ein Beispiel für ähnliche Befunde. „Kollegialität von Lehrkräften wird in der Erziehungswissenschaft auch als Erklärung dafür angeführt, dass Reformansprüche scheitern, wenn sie die Zusammenarbeit unter Lehrkräften verändern wollen. Lehrkräfte schützen sich vor (aus ihrer Sicht) unsachgemäßen und inkompetenten Eingriffen in ihren Unterricht, indem sie bei der Umsetzung der Reformansprüche kollegiale Zurückhaltung üben.“
Das bedeutet für die Praxis, dass Unterricht nur schwer durch noch so umfassende Top-down Maßnahmen verändert werden kann, sondern Veränderungen im Rahmen von Bottom-up Prozessen eingeleitet werden müssen. Die vermehrte Selbständigkeit der Schulen hat diesen Hintergrund. Das große und allgemein geschätzte Ziel der inneren Differenzierung im Regelunterricht – Anliegen bereits vor der Konjunktur der Hochbegabtenförderung und immer noch Anliegen während der Konjunktur der Hochleistungsförderung – dieses Ziel kollidiert mit den Routinen des Unterrichtens und deren organisatorischen Rahmenbedingungen. Lehrkräfte brauchen nicht mehr Zielbegründung, sondern Handlungsmacht und Handwerkszeug, das die Machbarkeit unterstützt.