Rheinberg u Bromme. Die Lehrenden und Erziehenden

Originalpublikation: Falko Rheinberg und Rainer Bromme, 2006. Die Lehrenden und Erziehenden. In: Krapp, A.; Prenzel, M.; Weidenmann, B. Geschichte, Gegenstandsbereich und Aufgaben der Pädagogischen Psychologie. Weinheim: Beltz

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Hinweis: Wegen der Länge des Beitrags haben wir einen ersten Teil herausgeschnitten. Darin geht es um historische Forschungsergebnisse und -ansätze. Im zweiten hier wiedergegebenen Teil werden (noch) aktuelle Ergebnisse zum Lehrerverhalten berichtet. Diese sind hoch relevant für die grundlegende Frage: Weshalb ist Unterricht so schwer veränderbar?  Einige für diese Frage besonders aufschlussreiche Ausführungen, wurden mit Unterstreichung markiert.
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9.3.3 Motive und Ziele

(1) Motive

Verglichen mit der Lernmotivation von Schülern (vgl. Kap. 8) weiß man recht wenig zur Lehrmotivation von Lehrenden.

Def.   –    Ein Motiv läßt sich auffassen als relativ überdauerndes Anliegen, eine bestimmte Inhaltsklasse von Person-Umwelt-Bezügen herzustellen, aufzusuchen oder aufrecht zu erhalten. Diese angestrebten Klassen oder Zielzustände lassen sich nach Heckhausen (1989) thematisch unterscheiden, etwa nach Leistung, Einfluß/Macht, sozialem Anschluß. Personen unterscheiden sich darin, welche Motivrichtungen bei ihnen schwächer oder stärker ausgeprägt sind. Aus der allgemeinen  Motivations-psychologie ist bekannt, daß solche Unterschiede nur dann im Verhalten zum Ausdruck kommen, wenn die Situation thematisch passende Befriedigungsmöglichkeiten (Anreize) in Aussicht stellt (s Rheinberg, 2000).

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Im Schulkontext spielt der Begriff „Leistung“ eine große Rolle. Auf den ersten Blick könnte man deshalb meinen, Schule sei ein ideales Anregungsklima für das Leistungsmotiv von Lehrern. Das ist aber keineswegs so. Personen mit starkem Leistungsmotiv sind von Situationen angezogen, in denen sie möglichst klare Rückmeldungen zum Stand oder Wachstum der eigenen Tüchtigkeit erhalten (z.B. Schwierigkeit und Güte eines selbst gespielten Musikstücks). Aber an welchen Standards sollte ein Lehrer sein Expertentum in Sachen Unterricht messen? Am ehesten böte sich an, wie weit er die Klasse in der gesicherten Stoffbeherrschung vorangebracht hat. Gemessen an den meist überzogenen Lehrplananforderungen hat er hier zunächst chronischen Mißerfolg. So gesehen ist es nicht weiter verwunderlich, daß Lehrer eher selten die erreichten Leistungen ihrer Klasse ansprechen, wenn man sie danach befragt, worauf sie in ihrem Beruf besonders stolz sind (29 % der Befragten bei Lortie, 1975). Viel häufiger werden überraschende Lernerfolge einzelner, meist „schwieriger“ Schüler genannt (64 % der befragten Grundschullehrer) oder erfolgreiche Absolventen, wenn sie ihrer ehemaligen Schule einen Besuch abstatteten (49% der befragten Sekundarschullehrer).

Abgesehen davon, daß diese und ähnliche ”Stolzanlässe” wohl eher seltene Ereignisse sind, ist es für die Leistungsmotivation von Lehrenden besonders problematisch, daß Lernerfolg ein „Gemeinschaftsprodukt“ von Lehrer und Schüler ist, bei dem die Einzelanteile prinzipiell nicht auseinandergehalten werden können. Außerdem fehlen vielfach klare Erfolgskriterien. Insofern ist aus motivationspsychologischer Sicht mit erheblichen Problemen zu rechnen, wenn hoch leistungsmotivierte Lehrer ihre herausfordernden Ziele auf der „edukativen“ Dimension verfolgen wollen. So ist auch verständlich, dass zumindest ein Teil von Gymnasiallehrern mit zunehmendem Praxiskontakt ihren ursprünglich relativ hohen „Pädagogenanspruch“ zurücknimmt und sich eher als Fachwissenschaftler verstanden wissen will (Müller-Fohrbrodt et al., 1978).

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Weit günstiger steht es um die Anregungsbedingungen zum Anschlußmotiv von Lehrern. Bei diesem Motiv geht es um das Anliegen, freundschaftlich vertrauensvolle Beziehungen zu haben, andere zu schätzen, zu verstehen und von anderen gemocht/verstanden zu werden. Hierfür bietet im Prinzip die Schule gute Voraussetzungen. Die Sozialpartner (Schüler) werden – abgesehen von einigen älteren, selbst wenig anschlußmotivierten Schülern – kaum etwas dagegen haben, wenn der Lehrer ein harmonisches Sozialklima herstellen will, in dem er sich selbst wohl fühlen kann. Ganz unproblematisch ist ein dominantes Anschlußmotiv unter den gegebenen Schulbedingungen allerdings nicht. So muß der Lehrer in seinen Zuneigungsbekundungen gewisse Grenzen einhalten. Körperlichkeit beispielsweise kann hier leicht mißverstanden werden. Zum anderen kann er abhängig werden von der Gratifikationsmacht der Schüler, die ja ihrerseits Zuneigung geben, aber auch entziehen können (Weidenmann, 1981).

Günstig für Lehrer sind ebenfalls Anregungsbedingungen für das Machtmotiv. Ziel dieses Motivs ist der Zustand, sich in Bezug auf andere Personen wichtig und stark zu fühlen. „Macht“ ist allerdings ein vieldeutiges Konzept. Für unseren Zusammenhang ist eine Unterscheidung bedeutsam, die auf McClelland (1970) zurückgeht. Demnach kann sich jemand zum einen „groß und mächtig“ fühlen, indem er andere klein und gefügig macht und sie gegen ihren Willen zu etwas zwingt (personalisiertes Machtmotiv). „Groß fühlen“ ist aber ebenso möglich, wenn man sieht, wie durch den eigenen Einfluß andere (z. B. Schüler) besser, stärker oder kompetenter werden (sozialisiertes Machtmotiv). Man kann annehmen daß bei Lehrern und anderen Sozialberufen das sozialisierte Machtmotiv relativ stark ausgeprägt ist. Befunde älterer Untersuchungen scheinen dies zu bestätigen (McClelland, 1975).

Mit einer besonders gravierenden Problemlage wäre zu rechnen, wenn das Verhalten von Lehrpersonen gleichzeitig durch ein stark personalisiertes Machtmotiv und einen hohen Leistungsanspuch bestimmt wird. Führungskräfte der Wirtschaft mit dieser motivationalen Orientierung kommen besonders schlecht mit Personen zuecht, von denen sie den Eindruck haben, daß sie weder besonders begabt noch hinreichend interessiert sind (Krug, 1984). Es ist anzunehmen, dass diese Befunde auch auf Lehrer (und erst recht auf Schulleiter) übertragbar sind

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(2) Werte und Ziele

Motive schreiben keineswegs zwingend ein bestimmtes Verhalten vor. Dazu sind sie viel zu global konzipiert. In welche Richtung und auf welche Weise etwa ein hoch machtmotivierter Lehrer die Entwicklung seiner Schüler beeinflussen möchte, ist gänzlich unbestimmt – außer, daß er sich in Beeinflussungssituationen generell wohlfühlt. Nun wäre es sicher nicht unerheblich zu wissen, was der Lehrer im Einzelfall erreichen will und wie das Gewollte sein Verhalten beeinflußt. Je konkreter die unmittelbar angestrebten Handlungsfolgen sind, um so größer ist die Chance, daß sie das aktuelle Verhalten leiten. Je allgemeiner dagegen Ziele sind, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß Verhalten von ganz anderen, jeweils aktuellen Situationsanregungen oder -erfordernissen bestimmt wird. Die „letzten Ziele“ können im Eifer des Tagesgeschäfts funktional so bedeutungslos werden, daß Personen gelegentlich nicht merken, daß ihr alltägliches Handeln sich weit von dem entfernt hat, was ihnen letztendlich wichtig und wertvoll erscheint. Es bedarf dann ganz besonderer Situationen (etwa Selbstreflexionsübungen in Fortbildungsseminaren), damit sich eine Person dessen gewahr wird.

Was sagen nun Lehrer, wenn man sie fragt, was bei ihrem Tun herauskommen soll? Das hängt z.T. natürlich davon ab, welche Lehrer gefragt werden und wie man fragt. Meist wurden allgemeine Fragen gestellt (z.B.: „Ziele der Primarschulerziehung“), und man erhielt entsprechend allgemeine Antworten, die auf Oberziele verweisen: z. B. „Glück“, „Förderung natürlicher Anlagen“, „Ehrlichkeit“, „Rücksichtnahme“ bei einer Stichprobe englischer Lehrer (Ashton et al., 1975), dagegen „Selbständigkeit im Denken und Handeln“, „Selbstvertrauen“, „Eigeninitiative“ etc. bei einer Stichprobe schweizer Lehrer (Brunner, 1980). ). Französische Lehrer nannten relativ häufig leistungsthematische Ziele (Will, 1984). Deutsche Lehrer scheinen dagegen inzwischen weniger Wert auf Leistung zu legen; für mindestens ebenso wichtig oder gleichrangig erachten sie die Förderung von Sozialtugenden wie „Kooperationsfähigkeit“, „Hilfsbereitschaft“ und „Toleranz gegenüber Minoritäten“ (Mischo & Rheinberg, 1995; Will, 1983; Wong, 1993). Bemerkenswerte Besonderheiten finden sich, wenn man den europäischen Kulturkreis verläßt. So rangieren für Lehrer in der Volksrepublik China Ziele, wie die Schüler für den“Aufbau der Nation“ zu begeistern oder „Vaterlandsliebe“ im obersten Wertigkeitsbereich, während deutsche Lehrer gerade diesen Zielen die niedrigsten – teils sogar negative – Wertigkeiten zumaßen (Wong, 1993). Natürlich dürfen solche Ergebnisunterschiede zwischen Lehrern aus verschiedenen Ländern nicht vorschnell als nationaltypisch gesehen werden. Dazu sind repräsentative Erhebungen erforderlich. Weiterhin gibt es innerhalb jeder Lehrerpopulation

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erhebliche Varianzen in den Zielen und Werten, die Lehrer in Zusammenhang mit ihrem Beruf für erstrebenswert halten.

(3) Allgemeine Zielorientierungen und konkretes Handeln

In Anlehnung an kognitiv-rationale Handlungsregulationsmodelle (z. B. Hacker, 1986) könnte man ja meinen, daß Lehrer zunächst Entscheidungen über allgemeine Ziele treffen und diese dann in konkrete Teil- oder Zwischenziele zerlegen würden, die schließlich in der Sequenz oder je nach Gelegenheit abgearbeitet werden. Wäre dem so, so sollte es ein leichtes sein, von Lehrern konsistente Zielhierarchien zu erfahren. Das ist aber nicht der Fall. So benötigen Ashtons Lehrer (s. o.) viele Sitzungen, um zu präzisieren, an welchen Ausprägungen des Verhaltens man die allgemeinen Ziele der Grundschule festmachen kann. Allgemeine Ziele zu haben, bedeutet also keineswegs, zu wissen, welche konkreten Zwischenziele den rechten Weg dorthin markieren.

Aufschlußreich ist hier eine Untersuchung von Wong (1993) mit deutschen Sekundarstufenlehrern. Sie wurden gefragt, (a) wie wichtig ihnen bestimmte Erziehungsziele sind, (b) wie häufig sie in ihrem Unterricht etwas speziell zur Erreichung dieser Ziele tun und (c) welche konkreten Unterrichtsmaßnahmen zur Erreichung dieser Ziele sie überhaupt kennen. Über alle Lehrer hinweg ergab sich, daß zwischen (a) und (b) eine Korrelation von r = -.72 und zwischen (a) und (c) eine von r = -.86 bestand. Für ihre wichtigsten Ziele (z. B. „vernünftige Lebensauffassung“, „moralische Prinzipien“) sahen diese Lehrer am seltensten konkrete Unterrichtsmaßnahmen vor und kannten auch die wenigsten! Anders formuliert: Mit zunehmender Wichtigkeit wächst die Gefahr, daß Ziele auf einem so hohen Allgemeinheitsniveau beschrieben werden, daß sie für das alltägliche Handeln kaum noch eine Rolle spielen.

Wenn Lehrer häufig dysfunktional zu ihren Erziehungszielen handeln, so liegt das vielleicht daran, daß die Ziel-Mittel-Beziehungen unklar sind, daß sozusagen technologisches Wissen zur Zielerreichung fehlt(vgl. Kap. 3). Wenn der Lehrer nicht recht weiß, mit welchen Methoden er ein Erziehungsziel erreichen kann, wird das Ziel vielleicht seine Rede über Unterricht, kaum jedoch sein konkretes Unterrichtsverhalten leiten können. Wie ist es aber, wenn der methodische Pfad zum Ziel bekannt ist? Die Befunde aus einer Untersuchung von Kleine & Weißling-Lünnemann (1982) deuten darauf hin, daß

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auch in diesem Fall die Ziele nicht ohne weiteres handlungswirksam werden (vgl. Kasten 7).

Kasten 7: Ziel, Weg und Unterrichtsrealität: Beispiel Binnendifferenzierung

Sportlehrer der Grundschule verfolgen u.a. die Ziele, den einzelnen Schüler gemäß seiner individuellen Fähigkeiten zu fördern und ihm so zu Selbstvertrauen und realistischer Selbsteinschätzung zu verhelfen. Deshalb halten sie es gerade im Sportunterricht für dringend erforderlich, das Unterrichtsangebot so zu differenzieren, daß Schüler mit ihren unterschiedlichen sportlichen Fähigkeiten auf individuell angepaßte Anforderungen treffen (Binnendifferenzierung). Entsprechend hielten in einer Untersuchung von Kleine & Weißling-Lünnemann (1982) 38 der 40 befragten Grundschullehrer die Binnendifferenzierung ihres Sportunterrichts für eine methodische Notwendigkeit. Obwohl angekündigt, zeigten Unterrichtsbesuche aber, daß diese Lehrer zu 95 % undifferenzierten Unterricht machten und das auch selbst so sahen. Eine Replikationsstudie an verschiedenen Schultypen (Kleine, 1983) führte zu ähnlichen Ergebnissen. Das Ziel ist klar, der Weg dorthin bekannt, und trotzdem wird das Gegenteil von dem getan, was subjektiv als Notwendigkeit gilt!
Im Einzelfall gibt es dafür jeweils subjektiv überzeugende Gründe. So haben z. B. die von Kleine & Weißling-Lünnemann (1983) befragten Lehrer u.a. folgende Argumente genannt, warum sie sich in ihrem tatsächlichen Sportunterricht nicht zielkonform verhalten haben: Furcht vor Verletzungen, Disziplinlosigkeit/Unselbständigkeit der Schüler, zu aufwendige Unterrichtsplanung bzw. -durchführung.

Wissen um das rechte Ziel und den angemessenen Weg sind offenbar wirkungslos, wenn diese übergeordneten Ziele mit anderen gleichrangigen Zielen in Konflikt geraten oder wenn die Lösung anderer Probleme vordringlich erscheint. Der Lehrer muß im Unterrichtsalltag zuerst einmal eine einigermaßen störungsfreie Interaktion sicherstellen. Wie aus vielen Lehrerbefragungen hervorgeht (s. zusammenfassend Hofer, 1986) steht die Bewältigung von Disziplin und Mitarbeitsproblemen ganz oben in der Liste der aktuell erlebten beruflichen Schwierigkeiten. Von daher ist zu erwarten daß im Unterricht pädagogische Oberziele des Lehrers nur dann handlungssteuernde Chancen gewinnen, wenn das obligatorische Zwischenziel „lernbereite Klasse“ gesichert scheint. Tatsächlich konnte in empirischen Unterrichtsanalysen nachgewiesen werden, dass Lehrer in schwierigen Situationen (z.B. aggressive Verhaltenstendenzen) in erster Linie das vordergründige Ziel „störungsfreie Weiterführung des Unterrichts“ im Auge haben und höherwertige erzieherische Ziele zurückstellen oder „verdrängen“ (vgl. Kasten 9.8).

Kasten  8: Ziel und Handeln von Lehrern: Beispiel Schüleraggression und Störungen im Unterricht

Einundzwanzig Hauptschullehrer und -lehrerinnen der 7. und 8. Klassen wurden in einer Untersuchung von Dann & Humpert (1987) 15 Unterrichtsstunden lang beobachtet. Insgesamt traten in dieser Zeit 569 aggressionshaltige und störende Schüleraktionen auf. Vor der Beobachtungsphase hatten die Lehrer angegeben, welche Handlungen sie jemandem empfehlen würden, wenn er in solchen Situationen (a) möglichst schnell den Unterricht fortsetzen möchte, wenn er (b) den Schüler erzieherisch beeinflussen möchte und wenn er schließlich (c) langfristig, in dieser Klasse die Aggression vermindern möchte. Zur kurzfristigen Unterrichtsfortsetzung wurden Dinge wie „Beobachten/Ignorieren“, „Abbrechen“ oder „Mahnen“ genannt, für die erzieherische Beeinflussung und die langfristige Agressionsvermeidung“ sozial-integrative Maßnahmen wie „Kompromiß“, „Integrieren“, „Ermutigen“ und „Einfühlen“. Durch die individuelle Zuordnung von Handlungsmustern zu Zielen läßt sich jetzt im Umkehrschluß (zumindest tendenziell) aus dem Handeln dieser Person ablesen, welche Ziele sie in dieser Situation offenbar verfolgt. Diese, aus dem Handeln erschlossenen Ziele kann man dann mit den Angaben vergleichen, die der Lehrer in einer Nachbefragung zu seinen Zielen in dieser Situation macht.
In 53 % der beobachteten Aggressions- und Störungsereignisse gaben die Lehrer an, ihr Ziel sei die kurzfristige Unterrichtsfortsetzung gewesen. In immerhin 47% der Situationen hätten sie zugleich (29 %) oder sogar alleinig (18 %) die Ziele „erzieherische Beeinflussung“ und „langfristige Aggressionsvermeidung“ im Auge gehabt. Die für diese Ziele zuvor empfohlenen sozial-integrativen Handlungsweisen wurden aber nur zu 5.7 % beobachtet. In 75,5 % der Fälle wurden dagegen Handlungen realisiert, die für das Ziel „kurzfristige Unterrichtsfortsetzung“ empfohlen worden waren.
Hätten die hier beobachteten Lehrenden auch in Bezug auf die beiden anderen Ziele in Übereinstimmung mit ihren zwar geäußerten Empfehlungen gehandelt, wären in fast der Hälfte der registrierten Situationen die zeitintensiveren sozial-integrativen Maßnahmen erforderlich gewesen, die dann die laufende Instruktion gestoppt hätten.

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Köttl & Sauer (1980) fanden, daß Lehrer mit extrem nondirektiven Einstellungen und demokratischen Zielen in „schwierigen Klassen“ genau so handeln wie extrem direktive Lehrer und klar gegen ihre Leitvorstellungen verstoßen. In „einfachen Klassen“, wo das Zwischenziel lernbereite Klasse“ schnell erreicht ist, handeln sie dagegen in Übereinstimmung mit ihren pädagogischen Zielen. Es konnte auch gezeigt werden, daß Lehrer sich von ihren „höheren“ pädagogischen Zielvorstellungen eher dann leiten lassen, wenn das Zwischenziel „lernbereite Klasse“ funktional nicht obligatorisch ist. Das ist bei Einzelgesprächen, Klassenfahrten, außerschulischen Projekten etc. der Fall.

9.3.4 Handlungsleitende Kognitionen

Die empirische Lehrerforschung hat sich mit einer Reihe von Faktoren befaßt, die man im weitesten Sinne den „handlungsleitenden“ Kognitionen zuordnen kann. Dazu gehören allgemeine und spezifische Erwartungen der Lehre an ihre Schüler, kausale Interpretationsmuster für die Entstehung erwünschter und unerwünschter Effekte (Kausalattributionen), Beurteilungspräferenzen (Bezugsnormorientierung), bestimmte Komponenten des professionellen Wissens sowie subjektive (implizite) Theorien bezüglich des eigenen Handelns.

(1) Erwartungen von Lehrern: Pygmalioneffekt

Ein wichtiger Befund über Lehrererwartungen hat in den 70er Jahren wesentlich dazu beigetragen, dass man sich verstärkt mit den Kognitionen von Lehrern beschäftigt hat: Der sogenannte Pygmalioneffek, den man nach Ludwig (1998) auch als eine bereichspezifische Variante der sich selbst erfüllenden Prophezeiung (self-fulfilling-prophecy) betrachten kann. Dabei geht es um Kognitionen, die man auch alltagssprachlich „Erwartungen“ nennt. Sie sollen die Tendenz haben, sich selbst zu bewahrheiten, indem sie eigenes und fremdes Verhalten (unbemerkt) so beeinflussen, daß am Ende das geschieht, was man erwartet hat. Einen ersten empirisch-experimentellen Beleg für dieses Phänomen erbrachten Befunde zum sog. Versuchsleitereffekt. Studenten, die in Lernexperimenten mit Tieren als Versuchsleiter mitwirkten und irrtümlich glaubten, ihre Versuchstiere kämen aus einem

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besonders lernfähigen Rattenstamm, brachten ihre Tiere unter hoch kontrollierten Experimentalbedingungen tatsächlich zu signifikant besseren Lernleistungen als eine zweite Gruppe von studentischen Versuchleitern, denen mitgeteilt worden war, ihre Ratten seien weniger lernfähig. (Tatsächlich bestand kein Unterschied zwischen den Versuchstiergruppen!). Dieser zunächst nur als methodisches Problem diskutierte Effekt erschien in einem ganz neuen Licht, als man das ganze statt mit Laborratten mit Schülern „durchspielte“ und statt der Versuchsleiter Lehrer täuschte. Genau das haben Rosenthal & Jacobsen (1968) gemacht und damit die Fachwelt, aber auch die Öffentlichkeit erheblich beunruhigt. In einer Grundschule (1.-6.) Klassenstufe wurden Intelligenztests durchgeführt. Den 19 Lehrern wurde erklärt, diese Meßverfahren seien keine gewöhnlichen Intelligenztests, sondern könnten die künftige Entwicklung der geistigen Fähigkeit der Kinder vorhersagen. Per Zufall wurden etwa 20 % der Schüler ausgewählt, und den Lehrern wurde mitgeteilt, daß bei diesen Schülern nach Maßgabe der Testresultate im kommenden Jahr mit einem außergewöhnlichen intellektuellen Wachstum zu rechnen sei. Bei der Nachtestung nach einem Jahr, stellte sich heraus, daß diese willkürlich ausgewählten Schüler zumindest auf den beiden unteren Klassenstufen tatsächlich signifikant größere Zuwächse in den Intelligenztestwerten zu verzeichnen hatten als ihre Mitschüler (vgl. auch Kasten 10.x im folgenden Kapitel).

Das Experiment von Rosenthal & Jacobsen (1968) fand ein grosses Echo in der Öffentlichkeit. Zudem war der Befund für sich genommen interessant genug, um weitere Forschungen anzuregen und sich mit den Befunden kritisch auseinander zu setzen. So wurde z.B. das ursprüngliche Feldexperiment wegen methodischer Unzulänglichkeiten kritisiert. Nur in ca. einem Drittel der Folgeuntersuchungen konnten ebenfalls signifikante Erwartungseffekte nachgewiesen werden (Rosenthal,1985; Ludwig, 1998). Dies führt zu einer intensiven Suche nach den Vermittlungsgliedern, die bewerkstelligen, daß eine Erwartung, also etwas was sich „im Kopf des Lehrers“ abspielt, tatsächlich das Verhalten von Schülern nachweislich beeinflußt. Wie und bei welchen Anlässen machen solche Lehrererwartungen etwas aus? Werden sie mehr gelobt, oder ist das Gegenteil der Fall? Geht der Lehrer mit ihnen freundlicher um und ruft er sie häufiger auf? Beobachtet er sie genauer und kann ihnen deshalb exakte Lernanregungen bieten? Teilt er ihnen vielleicht seine Erwartungen direkt mit?

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Solche und ähnliche Fragen wurden insbesondere von einer Forschergruppe um Brophy und Good (1974) systematisch untersucht. Brophy und Mitarbeiter fanden z.B., dass Lehrer auf unterschiedliche und meistens sehr subtile Weise ihre Erwartungen an die Schüler kommunizieren, z.B. indem sie bei Schülern, die sie als schwächer einschätzen, weniger lange auf eine Antwort warten, wenn sie ihnen eine Frage gestellt haben. Sie loben sie seltener und wenn, steht dieses Lob weniger klar in Zusammenhang mit einer konkreten Leistung des Schülers. Sie beobachteten auch, dass die schwächeren Schüler insgesamt seltener beachtet wurden und die Kommunikation mit ihnen weniger häufig Teil des ‚öffentlichen‘ Dialoges im Klassenzimmer war als dies bei den stärkeren Schülern der Fall war (vgl. Brophy, 1985). Damit sich Erwartungen tatsächlich auswirken, müssen noch weitere Bedingungen erfüllt sein. Heckhausen (1974) postullierte z.B. drei notwendige Bedingungen für das Zustandekommen des Pygmalion-Effekts;

    1. der Schüler leistete derzeit weniger, als es nach seinen Fähigkeiten möglich wäre (underachievement);
    2. der Lehrer unterschätzte bislang die Fähigkeit des Schülers und machte ihm diese Einschätzung auf verschiedene Weise deutlich;
    3. der Schüler hat diese Einschätzung des Lehrers übernommen („internalisiert“).

Inzwischen hat sich die Anzahl der für den Pygmalion-Effekt erforderlichen Voraussetzungen zu einer langen Kette notwendiger Bedingungen entwickelt, die auch verständlich macht, warum dieser aufsehenerregende Effekt so schwer zu replizieren ist (Krug, 1985). Das Interesse an Lehrererwartungen regte auch Untersuchungen an, die nicht den Auswirkungen, sondern der Genese solcher Erwartungen nachgingen (Weinert et al., 1981; Wineburg & Shulman, 1990; Rosenthal, 1993 s.RostS.418f).

(2) Kausalattributionen

Die Erwartungen, die Lehrer bezüglich ihre Schüler haben, hängen auch damit zusammen, wie sie sich deren Leistungen erklären. Im Bereich der Leistungsmotivationsforschung war schon relativ früh gezeigt worden, daß die Ursachen, mit denen jemand seinen eigenen Erfolg oder Mißerfolg erklärt, die Erwartungen bezüglich des künftigen Abschneidens steuern (Meyer, 1973b; Heckhausen, 1989). Ein gerade erzieltes Resultat beeinflußt vornehmlich dann solche Erwartungen, wenn man glaubt, es hätte an zeitstabilen Ursachen wie der eigenen (Un-)Fähigkeit gelegen und nicht an schnell veränderlichen Dingen wie der Tagesform oder der investierten Anstrengung. Es könnte sein, daß diese Beziehung

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auch dann gilt, wenn man statt der eigenen Resultate diejenigen von anderen Personen erklärt. Damit wurden (naive) Ursachenzuschreibungen, sogen. Kausalattributionen von Lehrern zu einem wichtigen Untersuchungsgegenstand (siehe Tab. 8x).

Womit erklären Lehrer Schülerleistungen? Schon die ersten Untersuchungen im deutschen Sprachraum (z.B. Meyer & Butzkamm, 1975; Rheinberg, 1975) zeigten, daß Lehrer hier bevorzugt mit den Faktoren „Fähigkeit“(„Begabung“, „Intelligenz“ etc.) und „Anstrengung“ („Arbeitseifer“, „Arbeitshaltung“ etc.) operieren. Neuere Untersuchungen bestätigen diesen Befund (Möller & Jerusalem, 1997). Das ist nicht überraschend, sondern entspricht dem, was der Pionier der Attributionsforschung Fritz Heider (1958) für Erklärungsstrukturen im Leistungsbereich vermutet hatte. Neben diesen immer wieder auftretenden Kausalfaktoren wurden dann nach und nach weitere gefunden (z. B. häusliches Milieu, Unterrichtsgegenstand, Unterrichtsqualität), so daß inzwischen Kategoriensysteme mit bis zu 30 Kausalfaktoren vorliegen, die Lehrer bei der Erklärung von Schülerleistungen heranziehen (zusammenfassend Fischer, 1982; Hofer, 1986; Rheinberg, 1980; Möller & Jerusalem, 1997). Wie schon gerade vermutet, zeigte sich nun, daß sich die Erwartungen künftiger Leistungen auch in der Fremdwahrnehmungsperspektive vor allem danach richten, ob der Lehrer zeitstabile Ursachen (z. B. Begabung, oder häusliches Milieu) vermutet oder nicht. Auch die Rückmeldung auf das Schülerverhalten (Lob oder Mißbilligung) hängt entscheidend davon ab, ob der Lehrer die zugeschriebene Ursache für vom Schüler steuerbar hält (z. B. Anstrengung, Arbeitseifer) oder nicht. So gesehen sind Ursachenerklärungen ein wichtiges Vermittlungsglied zwischen der Wahrnehmung einer bestimmten Schülerleistung und den Reaktionen (Erwartungsbildung, Sanktionierung) des Lehrers auf diese Leistung.

Die Untersuchung von Lehrerattributionen wurde um so interessanter als sich zeigte, dass die Ursachenerklärungen des Lehrers die seiner Schüler beeinflussen können. Scherer (1972) hatte das als erster für Lehrer nachgewiesen, die verabredungsgemäß gute und schlechte Leistungen im Unterricht explizit und nachdrücklich mit hoher oder unzureichender Anstrengung eines Schülers erklärten. Mit der Zeit wurden die Schüler dieser Klassen zu „Anstrengungstheoretikern“.

Wegen solcher und anderer Motivationsfolgen erschien es wichtig, Lehrer daraufhin zu untersuchen, welche Ursachenerklärungen sie als „natürlich“ und naheliegend ansehen. In

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zahlreichen Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, daß einige Lehrer eher als andere zeitstabile Schülermerkmale wie „Begabung“ oder „Intelligenz“ für schulisches Abschneiden verantwortlich machen (vgl. Fischer, 1982). Für die leistungsschwächeren Schüler müßte das ungünstige Folgen haben, sofern sie sich von den Erklärungen des Lehrers beeinflussen lassen. Ihr desolater Leistungsstand liegt nach dieser Erklärung an ihnen selbst, und zwar an Dingen, die sie nicht ändern können. Die möglichen Konsequenzen für die Lernmotivation und das leistungsbezogene Selbstkonzept der Lernenden sind offensichtlich (vgl. Kap 8). Und es ist damit zu rechnen, daß manche Lern-und Leistungsstörungen bei sogenannten „Lernbehinderten“ (d.h. Schülern mit erheblichen Lernbeeinträchtigungen) hier zusätzliche Ursachen haben bzw. unnötig stabilisiert werden. Attributionen sind in der Regel Bestandteil übergeordneter Wahrnehmungs- und Interpretationsmuster, die das Verhalten des Lehrers auf subtile Weise steuern. Diesen Sachverhalt haben z.B. Hofer (1981) und Dobrik & Hofer (1991) systematisch untersucht. Auf der Basis umfangreicher Erhebungen ermittelten sie auf induktivem Weg „Schülertypen“, nach denen Lehrer ihre Schüler klassifizieren. Da gibt es den „Klassenprimus“, den „extravertierten Quirl“ den „Introvertiert-Sensiblen“ u. ä. Solche Klassifikationskonzepte aus Lehrersicht sind insofern bedeutsam, als sich zeigte, daß Lehrer für die verschiedenen Typen unterschiedliche Ursachenerklärungen bevorzugen und in Abhängigkeit davon unterschiedliche Handlungsstrategien wählen. Es ergeben sich dann Muster der folgenden Art. Gibt ein Schüler vom Typ des „extravertierten Quirls“ eine richtige Antwort, bietet sich das Attributionsmuster „wegen Interesses, trotz mangelnder Konzentration“ an; es legt dem Lehrer als typische Reaktionsweise nahe: „Positive Rückmeldung geben und dranbehalten.“ Die gleiche richtige Antwort führt beim „schlechten Schüler“ oder „Klassenprimus“ zu ganz anderen Erklärungs- und Strategiemustern. Die auf diese Weise induktiv gefundenen Beziehungen sind hochkomplex und dürften dann noch je nach Fach und Klassenstufe verschieden sein.

Ein sehr anspruchsvoller Rekonstruktionsversuch der kognitiven Prozesse, in denen die Wahrnehmungen der Schüler durch den Lehrer mit den eher situativen Faktoren verrechnet werden, wurde von Dobrick & Hofer (1991) unternommen (vgl. Kasten 9). In dem schon angesprochenen Forschungsprojekt sind die zentralen Komponenten dieses Modells empirisch überprüft worden, und zwar für zwei Typen von Handlungsanlässen nämlich leistungs- und disziplinthematische Unterrichtsepisoden.

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Kasten 9 Was man alles wissen muß, um Lehrerverhalten vorherzusagen

Ralf ruft eine Antwort in die Klasse, eine falsche. Was wird der Lehrer tun? Um dies vorherzusagen, benötigen wir eine Reihe von Informationen. Zu welcher Schülergruppe („Typ“) gehört. Ralf in den Augen des Lehrers? Hierzu müssen wir die „naive“ (Klassifikations-)Theorie des Lehrers kennen (s. Abb.). Faßt der Lehrer Ralfs Verhalten eher als Disziplinverstoß auf oder als schlechte Leistung („Bedeutungsbemessung“, s. Abb.), und wie wird er es dann attribuieren? Aus dieser Kenntnis müßten wir schätzen können, wie der Lehrer die Entwicklung dieses Sachverhalts einschätzt („Wird-Lage“).

Ob der Lehrer überhaupt eingreift, hängt jetzt davon ab, ob diese Situationsentwicklung („Wird-Lage“) von einem gewünschten Standard („Soll-Lage“) abweicht, Diese Soll-Lage ist ihrerseits bestimmt von Zielvorstellungen des Lehrers (Zieldimensionen). Hier handelt es sich um allgemeine Ziele. Wie in Kasten 9.8 schon angesprochen, ist die unmittelbare Verhaltenswirksamkeit solcher abstrakter Ziel- und Wertvorstellungen aber keineswegs gesichert. Von daher ist es bemerkenswert, daß das Modell mit dem „Erfolgsniveau“ (s. Abb.) eine verbindlichkeitssteigernde Konkretisierung auf der Zielebene vorsieht. Dieses Erfolgsniveau legt fest, welches von den allgemeineren Zielen der Lehrer speziell für Ralf in welchem Ausmaß für erforderlich hält. Falls Wird- und Soll-Lage hinreichend abweichen, wird der Lehrer etwas tun. Die Handlungsmöglichkeiten, die ihm einfallen, kann er nach Erfolgswahrscheinlichkeiten (Handlungs-Ergebnis-Erwartungen), aber auch nach Kosten (Handlungs-Aufwand-Erwartungen) beurteilen. Vorherzusagen ist, der Lehrer täte jetzt das, was bei möglichst geringem Aufwand eine möglichst sichere Annäherung der Ist- an die Soll-Lage bewirkt (zur Weiterentwicklung des Modells siehe Dobrick & Hofer, 1991).

Der Aufwand solcher Vorhersagen ist beachtlich. Zudem mag der Praktiker daran zweifeln, daß ihm im zügigen Unterricht ständig derart komplizierte Gedankenketten durch den Kopf gehen. Diesem Zweifel läge dann allerdings ein Mißverständnis zugrunde. Das Modell ist lediglich ein Rekonstruktionsmodell, das nicht behauptet, der Lehrer müsse sich all dieser Prozesse gewahr werden.

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(3) Bezugsnormorientierungen

Woher kommen Attributionsunterschiede zwischen Lehrern? Eine von mehreren Voraussetzungen ist die Art des Leistungsvergleichs, die der Lehrer bevorzugt (Rheinberg, 1980; Rheinberg & Krug, 1999; vgl. auch Kap 14). Lehrer sind häufig gezwungen, die Leistungen der Schüler untereinander zu vergleichen, am Klassendurchschnitt zu messen. Das legt die Schulklassensituation ohnehin nahe. Lehrern, die nun besonders darauf aus sind, über Leistungsunterschiede zwischen ihren Schülern informiert zu sein (soziale Bezugsnormorientierung), fällt besonders ins Auge, wenn einige Schüler dauerhaft besser und andere dauerhaft schlechter als andere sind. Solche stabilen Unterschiede drängen zu zeitstabilen Ursachenerklärungen. In der Tat ließ sich zeigen, daß Lehrer mit starker sozialer Bezugsnormorientierung eher zu stabilen Attributionen neigen und sich dabei auch sicherer glauben.

Lehrer hingegen, die den einzelnen Schüler auch im zeitlichen Längsschnitt seiner intraindividuellen Leistungsentwicklung sehen (individuelle Bezugsnormorientierung), werden bei solchen Vergleichsoperationen eher auf erwartete und unerwartete Veränderungen des Verhaltens aufmerksam. Sie halten deshalb „endgültige“ Ursachenzuschreibungen eher in der Schwebe und operieren mehr mit veränderlichen Faktoren („jeweiliges Sachinteresse“, „Unterrichtsangebot“ etc.). Die Präferenzen für eine bestimmte Bezugsnormorientierung scheint mit der Bevorzugung bestimmter Erziehungsziele in Verbindung zu stehen (vgl. Kasten 10).

Kasten 10: Erziehungziele und Bezugsnormorientierung

Krug & Heckhausen (1982) vermuten, daß die Bezugsnormorientierung von Lehrern in pädagogischen Überzeugungen und Erziehungszielen verankert sei. Dieser Vermutung wurde in einer Untersuchung von Mischo und Rheinberg (1995) nachgegangen: 41 Gymnasiallehrer hatten bei Erziehungszielen angegeben, (a) wie wünschbar ihnen jedes Ziel erscheint und (b) wie sehr sie im Unterrichtsalltag etwas für die Realisation dieses Erziehungsziels tun. Es zeigte sich, daß nicht die pädagogische Wünschbarkeit (a), wohl aber die alltägliche Realisation von Erziehungszielen (b) mit der Bezugsnormorientierung in Zusammenhang stand. Eine starke individuelle Bezugsnormorientierung ging besonders mit der Realisation solcher Erziehungsziele einher, die sich einem Faktor „Bemühen um Förderung von Persönlichkeit und Sozialverhalten“ zuordnen ließen. Ähnliche Zusammenhänge wurden mit andersartiger Untersuchungsmethode auch von Mischo & Groeben (1995) gefunden.

Erziehungsziele erklärten allerdings nur einen Teil der Bezugsnorm-Unterschiede zwischen den Lehrern (18 % Varianzaufklärung). Die Autoren nehmen deshalb an, daß die Überzeugung, jemanden nur an dem messen zu dürfen, was ihm möglich ist (= individuelle Bezugsnorm) vs. an dem messen zu müssen, was im Sinne gerechter Gleichbehandlung von allen Personen einer sozialen Bezugsgruppe erwartet werden darf (= soziale Bezugsnorm) auch eine gewisse Eigenwertigkeit besitzt.

In einer Reihe von Untersuchungen ließ sich zeigen, daß Lehrer mit starker sozialer Bezugsnormorientierung ungünstige Motivationseffekte, insbesondere bei den lernschwächeren Schülern ihrer Klasse, erzeugen (zusammenfassend Rheinberg & Krug 1999). Befunde von Jerusalem (1984) und Schwarzer (1984) zeigen übrigens, daß sich solche bezugsnormabhängigen Motivationseffekte bei Schülern besonders dann akzentuieren, wenn man die Bezugsnormorientierung des Lehrers aus der Sicht seiner Schüler erfaßt.

Versuche, Lehrer mit stark sozialer Bezugsnormorientierung „umzupolen“ und sie auf die Sicht- und Bewertungsweise einer mehr individuellen Bezugsnorm zu bringen, waren unterschiedlich erfolgreich. Gute Erfolge hatten Trainings, bei denen die praktische Umsetzung individueller Bezugsnormorientierung gleich mitgeübt wurde (z.B. im Sportunterricht; vgl. Weßling-Lünnemann, 1985). Beim Vergleich verschiedener Trainingsmethoden erwies es sich überdies als günstig, wenn sich die Lehrer im Training nicht als bloße Befolger von Unterrichtsempfehlungen erlebten, sondern an der Entwicklung der unterrichtspraktischen Maßnahmen selbst beteiligt waren (Rheinberg & Krug, 1999). Offenbar sind die Machbarkeit und die erlebte Urheberschaft („kausale Autonomie“, sensu DeCarms, 1979) wichtige Variablen für den Erfolg solcher Lehrertrainings.

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(4) Kategorien professionellen Wissens

Die eben skizzierte Forschung zur (kausalen) Erklärung von Schülerleistungen und zur Bezugsnormorientierung lief auf einer recht engen theoretischen Schiene, auf der wie bei einem Schaltplan verschiedene kognitive Variablen des Lehrers in eine Voraussetzungsfolge gebracht und dann mit Blick auf sein Verhalten und dessen mögliche Effekte bei den Schülern (z.B. Art der Lernmotivation) untersucht wurden (für einen Überblick vgl. Rheinberg & Krug, 1999). Eine besondere Stärke dieser Studien, nämlich, daß sie strikt von allgemeinpsychologischen Theorien her entwickelt wurden, bildet allerdings zugleich auch einen Schwachpunkt. Sie beziehen sich nämlich überwiegend auf spezielle Phänomene, die in der unterrichtlichen Arbeit des Lehrers nur eine eng umgrenzte Bedeutung haben (Rheinberg, 1992). Man kann dies mit der Arbeit von Karthographen vergleichen, die ein unbekanntes Land vermessen, sich dabei aber auf die Gebiete beschränken, die ihnen relativ zugänglich waren: Einige eng umgrenzte Teilgebiete werden dann genau erfaßt und die Karten, die es darüber gibt sind von guter Qualität. Aber es gibt auch noch grosse weisse Flächen auf der Karte, weil man diese Gebiete nicht besucht hatte.

Will man das professionelle Wissen des Lehrers umfassend beschreiben, benötigt man eine Art „Karthographie des Lehrerwissens“, um die wichtigsten Gebiete näher bestimmen und die dort vermuteten Einflußfaktoren in ihrer Wirkung auf den Unterrichtsprozeß systematisch untersuchen zu können. Anknüpfend an Shulman (1986), Wilson, Shulman & Richert (1987) und Brophy (1991) hat Bromme (1992, 1997) die folgende Unterscheidung von Wissensbereichen vorgeschlagen:

Fachliches Wissen: Damit sind alle Wissensbestände gemeint, die sich auf das zu unterrichtende Gebiet oder Schulfach beziehen (z.B. Kenntnise aus dem Bereich der Germanistik für Deutschlehrer).

Curriculares Wissen: Die Lerninhalte des Deutschunterrichtes sind nicht nur eine vereinfachte Germanistik, sondern sie bilden einen eigenen Kanon von Wissen. Ebensowenig sind die curricularen Inhalte des Mathematikunterrichtes lediglich eine stark reduzierte Ansammlung fachmathematischer Zusammenhänge. Die für den Unterricht relevanten Konzepte können nicht einfach aus dem Kenntnisstand der wissenschaftlichen Fachdisziplinen „entnommen“

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werden. Vielmehr fließen auch Zielvorstellungen über Bildung (z. B. Konzepte über Allgemeinbildung) in die fachlichen Bedeutungen ein (vgl. auch Kap. 16).

Für die psychologische Analyse des professionellen Wissens ist die Unterscheidung von (A) und (B) wichtig. Denn die für Konkretisierung des Curriculums maßgeblichen Aspekte und Schwerpunktsetzungen können durchaus in Konflikt mit dem expliziten Wissen bzw. mit dem Selbstverständnis von Lehrern geraten, die sich primär als kompetente Vertreter eines Fachgebietes wahrnehmen.

„Philosophie“ des Schulfaches:

Dies sind die Auffassungen darüber, wofür der Fachinhalt nützlich ist und in welcher Beziehung er zu anderen Bereichen menschlichen Lebens und Wissens steht. Die Philosophie des Schulfaches ist auch impliziter Unterrichtsinhalt. Schüler lernen z. B. im Mathematikunterricht, ob der Lehrer der Auffassung anhängt, das ‚Wesentliche‘ an der Mathematik sei das Operieren mit einer klaren, vorab definierten Sprache, ohne daß es auf den referentiellen Bezug der verwendeten Zeichen ankäme, oder ob eher die Auffassung vorherrscht, Mathematik sei ein Werkzeug zur Wirklichkeitsbeschreibung. In den Naturwissenschaften und in der Mathematik wurden zahlreiche Studien durchgeführt, die einen Einfluß dieser allgemeinen Vorstellungen auf die Unterrichtspraxis empirisch nachweisen konnten (z.B. Art der Lehrererklärungen, Integration von Schüleräußerungen in die Stoffentwicklung) (vgl. Aguirre, Haggerty & Linder, 1990; Cooney, 1985; Thompson, 1984; Brickhouse, 1990, Lederman, 1986; Lederman & Zeidler, 1987).

Allgemeines pädagogisch-didaktisches Wissen.

Damit ist der Bereich des Wissens gemeint, der relativ unabhängig von den Fächern für die Optimierung von Lehr-Lernsituationen wichtig ist. Dazu gehören z. B. Kenntnisse darüber, wie man die für den geplanten Unterrichtsablauf notwendigen Interaktionsmuster und Arbeitsstile herstellt und Aufrecht erhält, oder Wissen über den Umgang mit schwierigen Situationen und Problemfällen. Man könnte den Bereich des pädagogisch-didaktischen Wissens nach den gleichen Gesichtspunkten untergliedern wie die Bereiche des stoffbezogenen Fachwissens und idealtypisch zwei unterscheiden. Eine erste Ebene bezieht sich auf das wissenschaftliche Wissen im engeren Sinn, z.B. empirisch geprüfte Fakten und Theorien. Eine zweite Ebene betrifft die Aspekte der ‚pädagogischen

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Philosophie‘. Dazu gehören u.a. Fragestellungen und Überlegungen, die Oser (1992) und Oser, Zutavern & Patry (1990) als „pädagogisches Ethos“ bezeichnen.

Fachspezifisches pädagogisch-psychologisches Wissen.

Die sachlogische Struktur des Unterrichtsstoffes ermöglicht für sich genommen noch keine Entscheidung über eine optimale Gestaltung des Unterrichts. Empirische Unterrichtsanalysen zeigen selbst bei gleichem Curriculum große Variationen des didaktischen Zugangs bei unterschiedlichen aber gleichermaßen erfolgreichen Lehrkräften (Leinhardt & Smith, 1985). Dies ist ein Hinweis auf das hochgradig individualisierte Wissen von professionellen Lehrkräften. Es entsteht im Laufe der beruflichen Karriere durch eine zunehmende Integration von allgemeinen pädagogischen, didaktischen und psychologischen Kenntnissen und spezifischen subjektiven Unterrichtserfahrungen. Die Fachdidaktiken der Unterrichtsfächer liefern dem Lehrer zwar Muster für eine derartige Wissensintegration, gleichwohl muß diese Integration letztlich von jedem Lehrer eigenständig vorgenommen und weiterentwickelt werden.

Die systematische (empirische) Erforschung der inhaltlichen Struktur des Lehrerwissens steckt noch in den Anfängen. Bei der Untersuchung des professionellen Wissens und Handelns von Lehrern muß man auch die Möglichkeit einkalkulieren, daß die Probanden eigenes Erfahrungswissen akkumulieren, das sich von den verfügbaren theoretischen Konzepten unterscheidet, die sie in ihrer Ausbildung gelernt haben. Wird diese Möglichkeit nicht berücksichtigt, dann besteht die Gefahr, die tatsächliche „Weisheit der Praxis“ zu unterschätzen. Kasten 11 liefert dazu ein Beispiel.

Kasten 11: Was wissen Lehrer über die Ursachen von Schülerfehlern

Carpenter, Fennema, Peterson & Carey (1988) haben das durch praktische Erfahrung entstandene Wissen von Lehrern über Schülerfehler in der Arithmetik analysiert. Als Grundlage dienten entwicklungspsychologische Befunde zu Additionsstrategien von Kindern im ersten Schuljahr. Je nach Formulierung der Aufgabe und nach Altersstufe lassen sich verschiedene Strategien des Abzählens sichtbarer Elemente (z.B. Finger) beobachten. Die Autoren fragten vierzig berufserfahrene Grundschullehrer nach ihrer Kenntnis solcher Strategien. Die Probanden sollten außerdem Aufgaben hinsichtlich ihrer Schwierigkeit für Schüler der ersten Klasse vergleichen.

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Die vermutete Aufgabenschwierigkeit wurde mit empirisch ermittelten Aufgabenschwierigkeiten verglichen. Für die meisten Aufgabentypen waren die Einschätzungen überwiegend korrekt. Die Lehrer konnten jedoch nur mit Mühe Gründe für ihre Einschätzungen angeben. Vor allem nannten sie gar nicht die in wissenschaftlichen Untersuchungen ermittelten Lösungsstrategien von Schülern, wie z. B. Abzählen an konkreten Gegenständen oder Rechenhilfen. Nur acht der vierzig Lehrer bezogen sich beim Beurteilen der Aufgabenschwierigkeit überhaupt auf Schülerstrategien bei der Aufgabenbearbeitung. Die Probanden begründeten ihre Einschätzungen der Aufgabenschwierigkeit statt dessen mit der Problemformulierung oder dem Auftreten von Schlüsselworten, z. B: „Wenn in der Aufgabe steht ‚Wieviel mehr Murmeln hat …‘, dann denken die Kinder sofort an ein Additionsproblem“. Die Lehrer vermuteten, daß Schüler danach suchen, ob es sich um ein Additions- oder ein Subtraktionsproblem handelt. Sie gruppierten die Aufgaben danach, ob die Problemformulierung der Textaufgaben diese Suche erleichtert oder erschwert. Carpenter et al. (1988) zeigten sich enttäuscht über das Fehlen des ‚pedagogical content knowledge‘ und behaupteten, die Lehrer hätten sich bei der Beurteilung der Aufgabenschwierigkeit an oberflächlichen Aufgabenmerkmalen orientiert. Tatsächlich deutet jedoch die Vorgehensweise der Lehrer auf reiches Erfahrungswissen hin. Es ist ihnen z.B. geläufig, dass Schüler als erstes versuchen, herauszufinden, um welchen Typ von Aufgabe es sich eigentlich handelt. Das ist eine sinnvolle Suchrichtung, denn im Unterrichtskontext stehen Aufgaben stets in einem Zusammenhang mit den vorhergehenden Aufgaben. Der Schüler muß erkennen, ob er die alte Strategie beibehalten kann (z. B. Addieren, weil bislang Additionsaufgaben dran waren) oder ob eine neue Strategie erforderlich ist. Die Beurteilungen der Lehrer deuten also durchaus auf professionelles Wissen über diesen Sachverhalt hin. Dieses Wissen ist realistischer als die Beobachtungen der Forscher über Additionsstrategien, weil die tatsächliche Schülerleistung in der Schulklasse nicht allein von der individuell verfügbaren Lernstrategie abhängt. Das sichere Urteil einerseits und die Artikulationsschwierigkeiten bei der Begründung andererseits sprechen dafür, daß es sich hier um intuitives Erfahrungswissen handelt.

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(5) Subjektive Theorien2

Anküpfend an das methodische und theoretische Konzept von ‚Subjektiven Theorien‘ (Groeben & Scheele, 1977; Groeben, Wahl, Schlee & Scheele, 1988) versuchte Wahl (1979, 1991) Überlegungen und Hintergrundannahmen empirisch zu rekonstruieren, die Lehrer im Unterricht „tatsächlich haben“ bzw. in der konkreten Situation aktivieren. Das sollte am ehesten in Situationen möglich sein, in denen der Lehrer bewußt überlegt, was er jetzt gleich tun soll. Aus Sammlungen solcher gewahr gewordenen Kognitionen zum eigenen Handeln müßten sich dann relativ stabile Strukturen rekonstruieren lassen, die so etwas wie eine subjektive Theorie dieses Lehrers darstellen. Systematische Rekonstruktionen subjektiver Theorien hätten den Vorteil, daß sie vom Lehrer verstanden werden (es ist ja seine eigene Theorie, die mit ihnen zusammen rekonstruiert wurde) und daß sie jene Bestandteile des Wissens betreffen, die tatsächlich handlungsrelevant sind (sie wurde ja aus handlungsleitenden Kognitionen „destilliert“). In diesem Forschungsansatz wird also nicht vom wissenschaftlich konstruierten Modell auf mutmaßlich handlungsleitende Kognitionen geschlossen, wie es z.B. in der Forschung zu Lehrerattributionen üblich war (s.o.), sondern es wird umgekehrt von tatsächlich wirksam gewesenen Kognitionen auf überdauernde individuelle kognitive Strukturen geschlossen (vgl. Kasten 11).

Kasten  11: Kognitionserfassung „online“?

Wie kann man aktuelle Kognitionen als Bedingungsvariablen des Handelns erfassen? Man kann ja nicht während des Handelns ständig unterbrechen und nach den Überlegungen fragen. Diese Schwierigkeiten versuchte Wahl (1979) damit zu umgehen, daß Lehrer und Untersucher sich unmittelbar nach dem Unterricht die videoaufgezeichnete Stunde ansehen. Pro Unterrichtsstunde wird je eine auffällige Stelle ausgewählt, an die sich der Lehrer noch gut erinnern und berichten kann, was ihm während des Unterrichts durch den Kopf gegangen ist (stimulated recall). Nach bestimmten Erarbeitungsregeln versuchen dann Untersucher und Lehrer, die entsprechenden Gedächtnisinhalte zu rekonstruieren.

Durch wiederholte Beobachtungen des Unterrichts (in der Regel zwischen 10 und 20 pro Lehrer) wird ermittelt, welche Kategorien von „eingriffsfordernden“ Situationen der einzelne Lehrer bildet und welche Handlungen ihm jeweils dazu einfallen. Bei einer

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solchen aktionsnahen Erfassungen handlungsleitender Kognitionen ergeben sich übrigens viel simplere Strukturen, als wenn man dieselben Lehrer in entspannter Situation dazu befragt, welche Gedanken man sich als Lehrer in solchen Situationen macht. Im Mittel fassen die von Wahl untersuchten Lehrer pro Klasse von Situationen nur eine bis zwei Handlungsmöglichkeiten ins Auge. Das kann bei dem unterrichtlichen Handlungsdruck nicht verwundern, steht aber in bemerkenswertem Gegensatz zu den feinsinnigen Uberlegungen, zu denen der Lehrer in Gesprächen über Bedingungen erfolgreichen Lehrens und Lernens fähig sind.

Wie kann man den handlungsleitenden Status subjektiver Theorien prüfen? Wahl et al. (1983) arbeiteten mit einer originellen „Doppelgänger-Strategie“. Bei dieser Methode werden einer zweiten Person, eben dem Doppelgänger, aus aufgezeichneten Unterrichtsepisoden Abschnitte mit Schülerverhalten vorgespielt, und der Doppelgänger soll vorhersagen, ob und wie der Lehrer gleich eingreifen wird. Der Doppelgänger wird dann verschieden informiert. Unter einer ersten Bedingung weiß er nichts vom Lehrer und sieht nur die Schüler. In diesem Fall kann er das Lehrerverhalten nur in 10% der Fälle mit zufriedenstellender Genauigkeit vorhersagen. Weiß der Doppelgänger darüber hinaus, wie der Lehrer Situationen klassifiziert, welche Handlungsklassen er bildet und wie er die Situations- und Handlungsklassen miteinander verknüpft, erreicht die Verhaltsprognose eine Trefferquote von ca. 38%. Ergänzt man nun das Wissen um diese überdauernde kognitive Struktur des Lehrers (die man auch subjektive Theorie nennen könnte) mit Informationen über handlungssteuernden Gedanken des Lehrers zur Wahrnehmung einer spezifischen Situation, so steigen die Trefferquoten erwartungsgemäß von 38% auf über 45% in Leistungskontexten und ca. 42% in Störungssituationen. Fügt man jetzt noch die aktuellen Gedanken des Lehrers zur Handlungsauswahl hinzu, so müßte man erwarten, daß sich die Trefferquote 100% nähert. Statt dessen ergibt sich nur ein Zuwachs von knapp 2% für leistungsthematische Kontexte; für Störungssituationen sinkt die Prognosegüte gar von 42% auf 34% ab! Daraus kann man den Schluß ziehen, daß beim raschen Reagieren in auffälligen oder problematisch erlebten Situationen die realen Prozesse der Handlungsauswahl nur sehr schwer introspektiv zugänglich sind. Besonders schlecht werden die Prognosen des Doppelgängers, wenn er zusätzlich erfährt, was der Lehrer in entspannter Gesprächssituation alles an „pädagogischen Gedanken“ zu solchen Situationen

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geäußert hat. Diese Information scheint den Doppelgänger geradezu in die Irre zu führen (Wahl et al., 1983).

Daß diese Irreführung gerade in Störsituationen auftritt, die ja schnelles Eingreifen erfordern, verweist darauf, daß hier ein reflexives und abwägendes Subjektmodell das tatsächliche Geschehen nicht gut abbildet. Das sehen auch Wahl et. al. (1983) so. Das Wunschbild eines reflexiven Menschen (Groeben, 1986) darf nicht den Blick dafür verstellen, daß gerade beim Handeln unter Druck erfolgreiches Agieren eine Vielzahl situativ gepaßter Routinen erfordert, die man schnell und ohne handlungsgenerierende Denkprozesse einsetzen kann. In gewisser Weise ähnelt hier der Lehrer im Unterricht einem Autofahrer, bei dem wir ja auch hoffen, seine Reaktionen kommen in schwierigen Situationen schneller zustande, als das nach reflexiver Bearbeitung des Geschehens möglich wäre. Experten greifen bei hinreichender Expertise auf hochgradig verdichtetes Interpretations- und Handlungswissen zurück, bei dem große Informationsmengen bearabeitet und miteinander verknüpft werden, ohne den Arbeitsspeicher zu überladen.

Routiniertes Expertenhandeln von Lehrern ist in belastenden Störsituationen besonders gefordert, aber nicht darauf beschränkt. Wie bei jeder komplexen Aktivität entlasten eingeübte Ablaufmuster das Handeln und bieten erst damit die Möglichkeit, Schwerpunkte zu setzen, Feinabstimmungen vorzunehmen oder parallel andere Dinge im Auge zu haben, bzw. vorzubereiten. In der Lehrerforschung ist von Routinen noch in einer zweiten Bedeutungen die Rede, die man analytisch von dem psychologischen Prozess der Automatisierung und der damit einhergehenden Verdichtung der handlungsleitenden Konzepte unterscheiden sollte. Mit Routinen werden auch die sozial eingeübten Handlungsmuster bezeichnet, denen Lehrer und Schüler folgen. Es hat sich empirisch als günstig erweisen, wenn Lehrer frühzeitig nach Übernahme einer neuen Klasse feste Verhaltensmuster vereinbaren, die dann sozusagen den Rahmen für spontanes Verhalten bieten (Doyle 1986). Diese fest vereinbarten Verhaltensmuster (Wie wird die Stunde eröffnet? Wie wird damit umgegangen, wenn ein Schüler die Klasse verlassen will?) reduzieren dann auch die kognitiven Belastungen und fördern die Bildung von Routinen im erstgenannten Sinne. Zur Expertise (nicht nur) von Lehrern gehört allerdings auch, dass sie von ihren Routinen dann abweichen.

Brophy et al. (1983) haben über längere Zeit hinweg beobachtet, auf welche Weise Lehrer einen neuen Unterrichtsgegenstand einführen. Hierzu gibt es viele Möglichkeiten: Der

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Lehrer kann begeistert tun und Vorfreude zeigen, kann auf die Nützlichkeit des Kommenden verweisen, auf Zeitknappheit und die Notwendigkeit höchster Konzentration abheben, den Selbstverwirklichungswert des Kommenden klarmachen, etc. Welche Einführungsstrategien sind die günstigsten? Dazu wurde jeweils registriert, wie die Klassen nachfolgend mitarbeiteten. Völlig unerwartet zeigte sich, daß die beste Mitarbeit dann auftrat, wenn der Lehrer ohne Einführung einfach anfing zu unterrichten!

Daraus dürfen allerdings keine voreiligen Unterrichtsempfehlungen abgeleitet werden. Es war nämlich so, daß die Lehrer anscheinend nur dann ohne Einführung unterrichteten, wenn der Stoff (oder die Stimmung der Klasse) hinreichende Mitarbeit auch ohne Einführungskunstgriffe zu garantieren schien. Sah der Lehrer hingegen Schwierigkeiten voraus, so bemühte er sich sehr wohl um eine spannende Einführung!

Dieses Beispiel macht deutlich, daß Lehrerverhalten bei aller aufgezeigten Bedeutung von Routinen nur dann theoretisch adäquat rekonstruiert werden kann, wenn kognitive Prozesse, insbesondere die Situationsauffassung, in die Analyse einbezogen werden. Wichtig ist auch die Tatsache, dass routiniertes Expertenhandeln stark bereichsspezifisch ist und vom Ausmaß der Vorerfahrung bestimmt wird: Konfrontiert man erfahrene Lehrer mit neuen Anforderungen (z.B. einer neuen Unterrichtsmethode), dann lassen sich Verhaltensmuster beobachten, die denen von Anfängern ähneln (Rich 1993).

Erstaunlicherweise haben sich bei Lehrern keine (linearen) Zusammenhänge zwischen der Dauer der Berufserfahrung und der Qualität des Unterrichtserfolgs gezeigt, wie es eigentlich aus der Expertenforschung in anderen Bereichen zu erwarten gewesen wäre. Weinert, Schrader & Helmke (1992) vermuten einen Grund dafür im Phänomen des Burnout (siehe unten), einer Folge der hohen emotionalen Belastungen des Lehrerberufs. Das führt uns zum nächsten Abschnitt dieses Subkapitels, den emotionalen Faktoren des Lehrerhandelns

9.3.5 Emotionale Faktoren

(1) Kognition und Emotion: Zwei interagierende Steuerungssysteme Der Lehrer, den beim Verlassen der Klasse eine Apfelsine am Hinterkopf trifft, wird darauf sowohl in emotionaler, als auch kognitiver Hinsicht reagieren. In der Regel wird man zunächst Anzeichen von Überraschung, gekoppelt mit einer „Orientierungsreaktion“ beobachten können (schnelles Umdrehen mit reflextypischem Gesichtsausdruck,

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Schadenskontrolle durch Griff an den Hinterkopf, etc.). Wie es dann weitergeht, hängt entscheidend davon ab, wie der Lehrer die Situation auffaßt. Sieht er beim Umdrehen in hämisch lachende Schülergesichter, wird er Absicht unterstellen und mit Ärger, Wut, evtl. mit Angst reagieren. Sieht er dagegen einen höchst erschrockenen Schüler, wird er Versehen unterstellen. Angst wird in diesem Fall kaum auftreten.

Welche Emotionen bei einer bestimmten Gelegenheit auftreten, hängt also von der (kognitiven) Interpretationen ab und kann im zeitlichen Verlauf auch wechseln. So betrachtet sind emotionale Reaktionen den kognitiven Prozessen der Situationsauffassung nachgeordnet. Andererseits gibt es auch genügend Belege für den umgekehrten Fall, daß ein bestehender emotionaler Zustand nachfolgende Kognitionen beeinflußt (Zajonc, 1980 b). Der sprichwörtliche Ärger über die Fliege an der Wand zeigt wie eine schon gegebene „Bodenaffektivität“ nachfolgende Situationsbewertungen beeinflußt. Weiterhin wurden in bestimmten Gehirnregionen (limbisches System) eigenständige Bewertungsinstanzen nachgewiesen, die vor allem in vital bedeutsamen Situationen emotionale Reaktionen auslösen und ohne analytisch-sequenzielle Prozesse der Informationsverarbeitung im Neokortex, d.h. ohne rational-kognitive Bewertungen auftreten, ihnen sozusagen vorgeordnet sind. (Scheerer, 1981, Zajonc, 1980 b; über den aktuellen Forschungsstand gibt LeDoux, 1998 einen Überblick).

Angesichts dieser empirisch gut gesicherten wechselseitigen Beeinflussung von Emotion und Kognition wäre es falsch, das eine als bloße Folge des anderen zu betrachten.

Vielmehr ist davon auszugehen, daß es sich hier um zwei unterscheidbare aber interaktiv wirkende Steuerungssysteme handelt (Lantermann, 1983). Wenn man dem plausiblerweise folgt, genügt es nicht, sich für die Beschreibung und Erklärung des Lehrerhandelns allein mit kognitiven Faktoren zu befassen; man muß auch genaueres über Emotionen wissen. Welche Rolle spielen sie z.B. in der Interaktion mit den Schülern, und mit welchen besonderen Verhaltensauswirkungen ist zu rechnen?

(2) Typische Funktionen von Lehreremotionen

Bereits Darwin (1872) machte darauf aufmerksam, daß Emotionen in der sozialen Interaktion unmittelbar kommunikativen Wert haben. Da sie einerseits zwischenmenschlich „lesbar“, vom „Sender“ aber sehr viel schwerer zu kontrollieren sind als das gesprochene Wort, sind sie sogar besonders valide Indikatoren für den momentanen

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Zustand des anderen. Schüler wissen z.B. nach einiger Zeit sehr genau, wann es bei welchem Lehrer, „ernst wird“. Dies kann für sie als Stopsignal gelten oder als Indikator, auf dem richtigen Weg zu sein – je nachdem, in welchen Zustand sie den Lehrer versetzen wollen. Enttäuschung oder Freude des Lehrers sind für Schüler ebenfalls lesbar und haben je nach Wertschätzung für diesen Lehrer bekräftigende Wirkung. Emotionen des Lehrers haben also eine wichtige kommunikative Funktion im Lehr-Lerngeschehen.

Ein weiterer Punkt, der Lehreremotionen aus pädagogisch-psychologischer Sicht wichtig erscheinen läßt, sind ihre Auswirkungen auf die Motivation und die aktuelle Funktionstüchtigkeit des Verhaltens. Bei sehr starken Emotionen (affektiven Zuständen) ist diese Wirkung offenkundig. Je nachdem, ob sich der Lehrer gerade besonders glücklich fühlt, oder starke Enttäuschung, Wut oder Angst erlebt, sind die Flexibilität, Intensität und Organisation seines Unterrichtsverhaltens sehr verschieden. Seine momentane Bereitschaft und Fähigkeit zur optimalen Steuerung des Unterrichts sind davon erheblich betroffen. Emotionen haben hier im Prinzip die gleiche Wirkung wie in anderen Lebensbereichen, die komplexe Problemlösungsprozesse erfordern. Neben solchen massiven Verhaltenseffekten haben Emotionen (und Stimmungen) einen oft unbemerkten Einfluß auf die Motivation (Abele, 1992). Bei aller Unterschiedlichkeit lassen sich Emotionen auf einer Lust-Unlust-Dimension einordnen. Lust – Unlust wiederum kann man als die „großen Lehrmeister des Menschen“ auffassen (Schneider & Schmalt, 1994, S. 13). Auch ohne radikaler Hedonist zu sein, wird man zugeben müssen, daß kaum jemand ohne Zwang oder hohen erwarteten Nutzen längerfristig Dinge tut, die im Vollzug deutliche Unlustzustände hervorrufen. Dies gilt insbesondere dann, wenn Handlungsalternativen sichtbar sind, deren Vollzug lustvolle, d.h. emotional befriedigende Zustände verspricht. In vielen Motivationskonzepten wird die emotional „getönte“ Bewertung von bereits eingetretenen oder erwarteten Handlungsfolgen als das zentrale Prinzip der Motivierung angesehen. Ein Lehrer, der Glücksgefühle hat, wenn er merkt, daß seine Schüler im Unterricht begeistert mitmachen, wird solche Zustände bevorzugt herzustellen versuchen. Dagegen wird ein Lehrer, der Bedrohtheitszustände erlebt, solche Ereignisse möglichst zu verhindern suchen. Motivationspsychologisch sind also die vorweggenommenen Emotionszustände Steuerungsgrößen des aktuell ablaufenden Verhaltens. Sie machen das aus, was man in handlungstheoretischen Motivationstheorien mit Anreiz bezeichnet (vgl. Heckhausen 1989). In diesem theoretischen Modell wird das

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Verhalten instrumentell konzipiert: Es hat den „Zweck“, künftig angenehme Person-Umwelt-Bezüge herbeizuführen, unlustvolle hingegen abzuwehren.

Auch ohne das Menschenbild eines auf Zukunft angelegten Wesens in Frage zu stellen, ist allerdings fraglich, ob es immer nur künftige und vorausgespürte Emotionen sind, die motivationale Auswirkungen haben. Immerhin kann man sich ja im Vollzug der Tätigkeit selbst und unabhängig von ihren Zielen oder Zwecken verschieden wohl fühlen (sogenannte „tätigkeits- vs. zweckzentrierte Anreize“; Rheinberg, 1989). Diese verhaltensbegleitenden Emotionen haben weniger zielgebende Funktion, sondern steuern das Verhalten auf eine sehr unmittelbare Weise. Je nach Intensität und Färbung der emotionsgesteuerten Befindlichkeit („Erlebensqualität“) tendiert die Person dazu, den im Handeln realisierten Person-Umwelt-Bezug entweder aufrecht zu erhalten und gegebenenfalls auszubauen, oder zu reduzieren oder ganz aufzugeben. Gegenwärtig gewinnen in der Pädagogischen Psychologie Forschungsansätze an Bedeutung, die sich mit diesen bislang wenig beachteten Aspekten der Verhaltenssteuerung systematisch befassen (vgl. LeDoux, 1998).

In den folgenden Abschnitten werden wir uns mit einigen häufiger auftretenden Lehreremotionen befassen. Dem Stand der Forschung in diesem Bereich folgend, werden wir uns auf wahrnehmbare und verbal mitzuteilende Komponenten beschränken. Wir haben es in der Regel nämlich mit Befragungen von Lehrern, also dem Einholen verbaler Äußerungen, zu tun. Untersuchungen zu psychophysiologisch-vegetativen Komponenten der Lehreremotionen sind wohl wegen des meßmethodischen Aufwandes die Ausnahme geblieben (z. B. Sutcliffe & Whitfield, 1979; neuere Literatur ?). Wir werden in erster Linie darauf eingehen, über welche Emotionen Lehrer im Zusammenhang mit Unterricht berichten und welche Bedingungen oder Ereignisse diese Emotionen auslösen. Weiterführende Hinweise zu pädagogisch-psychologischen Forschungsansätzen im Bereich Emotion und Verhalten finden sich in Euler & Mandl, 1983; Goller, 1992; Jerusalem & Pekrun, 1999).

(3) Positive Lehreremotionen

In welchen Unterrichtszusammenhängen und bei welchen Ereignissen geben Lehrer an, ein Gefühl der Zufriedenheit oder gar Glücksgefühle zu haben? Diese Frage ist besonders deshalb interessant, weil hier die Dinge erfaßt werden, die positiven Anreizwert für den

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Lehrerberuf haben. Empirische Befunde (vgl. Kasten 9.13) deuten darauf hin, daß positive Lehreremotionen häufig dann auftreten, wenn soziale Bedürfnisse und Motive angesprochen sind, oder wenn die Erfahrungen und Ereignisse im Klassenzimmer bestätigen, daß er mit seinen didaktischen Bemühungen erfolgreich war.

Kasten 12: Worüber freuen sich Lehrer?

Randoll (1981) hat Lehrer gebeten, sich an Unterrichtsereignisse zu erinnern, wo sie Befriedigung, Freude oder gar Glück erlebten. Befriedigung wird berichtet, wenn etwa ein Schüler den Lehrer mag, trotz dessen Autoritätsfunktion (22%), ein Schüler bessere Mitarbeit (22%) oder bessere Leistungen (20%) zeigt oder wenn ein Schüler sich kooperativer (19%) verhält als früher. Den genannten Ereignissen ist gemein, daß hier der Lehrer trotz Schwierigkeiten etwas beim Schüler bewirkt, was ihm wichtig, erscheint.

Das als stärker beschriebene Gefühl von Freude trat bei offenbar größeren Schwierigkeiten auf, die länger dauernde Einflußnahme erforderten und die dann endlich (oft plötzlich) doch wirksam wurde: Ein früher ausfälliger Schüler ist jetzt anhänglich (26%); ein Schüler verteidigt einen anderen gegen ungerechtfertigte Anschuldigungen (20%); ein bislang schwacher Schüler arbeitet jetzt konzentriert mit (18%).

Fragt man nicht nach zurückliegenden Erfahrungen, sondern gibt Ereignisse als Fälle vor (Prawat et al., 1983), so treten Stolz und Glücksgefühle am stärksten dann auf, wenn ein „schwach Begabter“ sich plötzlich stark anstrengt.

(4) Negative Lehreremotionen

Während sich die pädagogisch-psychologische Forschung relativ ausführlich mit negativ gefärbten Schüleremotionen beschäftigt hat, insbesondere Angst; (vgl. Kap. 8) gibt es nur wenige systematische Untersuchungen über die „unguten Gefühle“ von Lehrern. In einer Reihe von empirischen Studien hat man sich z.B. mit den auslösenden Bedingungen von Ärgerreaktionen befaßt. Ob und wie häufig sich ein Lehrer ärgert, hängt demnach vor allem von folgenden Bedingungen ab: (1) objektive Gegebenheiten (Schüler, Schulbesonderheiten und Rahmenbedingungen); (2) Interpretation potentiell beeinträchtigender Ereignisse (z.B. beabsichtigt?, vermeidbar?); (3) Standards oder Erwartungswerte, die der Lehrer für verbindlich und erreichbar hält und offenbar (4) noch von einer Art dispositioneller „Ärgerbereitschaft“ (vgl. Hofer, 1986).

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Etwas genauer wurde die Angst von Lehrern untersucht. Angst ist eine Emotion, die von Erwartungen (Befürchtungen) lebt. Befürchtet werden Ereignisse, die wichtige/angenehme Komponenten des jetzigen Lebensvollzugs (Selbstachtung, soziales Erscheinungsbild, körperliche Unversehrtheit, Schmerzfreiheit, etc.) wegnehmen oder beeinträchtigen. Eine Person, die Angst erlebt, muß also (1) etwas zu verlieren haben; zugleich muß sie (2) künftigen Ereignismöglichkeiten (Verlusten) hinreichend Beachtung schenken und schließlich muß sie (3) daran zweifeln, daß sie selbst, wohlmeinende andere oder gar ein „Schutzengel3“ die kommende Situation unter Kontrolle bekommen und das Bedrohliche abwenden können. Faßt man diese drei Bestimmungsstücke als notwendige Bedingungen normaler (nicht pathologischer) Angst auf, dann könnte man bezweifeln, daß Lehrer davon betroffen sind; denn was hat er in der Schule schon zu verlieren und nicht hinreichend unter Kontrolle?

Empirische Befunde zeigen allerdings, daß Angst bei Lehrern durchaus keine Seltenheit ist. Peez (1983) unterschied verschiedene Angstformen und fand, daß zu Angst befragte Lehrer am häufigsten „Versagensangst“ und „Konfliktangst“ angeben. Versagensängste sind dort wahrscheinlicher, wo pädagogische Mißerfolge offenkundig sind und zugleich die unmittelbare Verantwortlichkeit des Lehrers klar scheint. In Weidenmanns (1978) Einzelfallstudien zeigt sich hier etwa die Angst, daß Schüler ostentativ nicht mitarbeiten oder die Bitten und Anordnungen des Lehrers einfach ignorieren könnten. Auch die offene wie lautstarke Revolte im Klassenzimmer oder massive Beleidigungen des Lehrers werden häufig als angstmachende Erwartungen genannt.

Aber warum soll das Angst machen? Nach den drei obengenannten Angstvoraussetzungen muß der Lehrer hier einen wichtigen Bereich seines jetzigen Lebensvollzugs gefährdet sehen. Bei den gerade skizzierten Fällen sind zwei verschränkte Bereiche auszumachen. Zum einen ist die berufliche Selbstdefinition bedroht: „Wer solche Situationen nicht meistert, hat seinen Beruf verfehlt!“ Zum anderen sind solche Situationen z.T. auch Machtkämpfe, und die Selbsteinschätzung, eine respektierte Person zu sein, ist gefährdet. Letztes erklärt auch, warum die Konfliktangst gleich nach der Versagensangst genannt wird: Lehrer fürchten die exemplarische Funktion von verfahrenen Machtkämpfen mit den Schülern, daß alle erleben, daß dieser Lehrer letztlich ”nichts machen kann”. Natürlich

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haben Lehrer mancherlei weitere Befürchtungen und Unsicherheiten. Ein Großteil geht darauf zurück, daß Lehrer die Vielzahl der Anforderungen an ihre Tätigkeit nicht in befriedigendem Ausmaß erfüllen können, da diese Anforderungen z.T. widersprüchlich sind (z. B. sowohl „Selektionsagent“als auch“Entwicklungsförderer für alle“ zu sein). Weiterhin sind die Ziele des Lehrerberufs so anspruchsvoll definiert, daß sie gar nicht erfüllt werden können und sich der [Umsetzung entziehen]. Und schließlich ist der Lehrer oft mit Problemen konfrontiert, die seine Kompetenz schlicht überschreiten (z.B. Gewalt an Schulen, ethnische Konflikte; s. Kap 8).

Häufiges Ertragen negativer Affektauslöser kann zu dem führen, was man auch alltagssprachlich mit Streß im Sinne von ernster Überbeanspruchung meint (Schwarzer, 1993 s.Rost-S.304). Umfragen bei Lehrern (z.B. Weidenmann, 1984, neuere Literatur?) wie auch arbeitsphysiologische Untersuchungen (Müller-Limmroth, 1980) machen wahrscheinlich, daß übermäßige Belastungen häufig von Schwierigkeiten bei der Steuerung des alltäglichen Unterrichtsablaufes herrühren. Nach den Aussagen der Lehrer handelt es sich vornehmlich um Disziplinprobleme mit einzelnen Schülern oder der ganzen Klasse und um Motivierungsprobleme. Es sind also bevorzugt machtthematische Problemsituationen. Daß im Unterricht Blutdruck und Herzfrequenz des Lehrers steigen, kann da nicht sonderlich überraschen. Lehrern geht es hier offenbar ähnlich wie hoch machtmotivierten Managern, die deutlich stärker als niedrig machtmotivierte infarktgefährdet sind (McClelland, 1975; 1989). Aus Befunden verschiedener Untersuchungen zeichnet sich ein Trend ab, daß erfahrene Lehrer im Vergleich zu relativ unerfahrenen ihren Beruf als weniger belastend empfinden (Hofer, 1986, Terhart, 1994). Bei den vorwiegend amerikanischen Studien ist allerdings zu beachten, daß die „Erfahrenen“ eine „Survival-Population“ darstellen, denn in den ersten zehn Dienstjahren geben immerhin 50% der amerikanischen Lehrer den Beruf auf (Phillips & Lee, 1980).

(5) Berufszufriedenheit

Angesichts der starken Belastung des Lehrerberufs könnte man erwarten, daß die Lehrerschaft höchste Grade von Berufsunzufriedenheit erlebt. Tatsächlich scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein. Die überwiegende Zahl der Lehrer ist mit ihrem Beruf insgesamt zufrieden: 83 % bei Roth (1972) oder 77% bei Knight-Wegenstein (1973). Im Verlauf des Berufslebens scheint die mittlere Berufszufriedenheit von Lehrern sogar zu

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steigen. (Littig, 1980, Merz, 1979)

Wie ist dieser scheinbare Widerspruch zu erklären? Zunächst kann man den gerade angeführten negativen Seiten des Berufes einige positive gegenüber stellen. Berufliche Aspekte, die bei Befragungen zur Qualität des Lehrerberufs als besonders erstrebenswert genannt wurden, sind etwa die freie Gestaltung und Zeiteinteilung der Arbeit, wobei die Arbeit selbst als abwechslungsreich und vielseitig gilt (Gibt es neuerere Literaturbelege?) . Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt ist die Vielfalt der berufsbiographischen Entwicklungsverläufe (vgl. Kasten 9.14).

Kasten 13: Berufsbiographische Entwicklungsverläufe bei Lehrern (nach Huberman, 1989)

Auf der Grundlage ausführlicher Interviews mit 150 schweizer Lehrern entwickelte Huberman (1989) das folgende Schema, mit dem sich einige häufig auftretende Entwicklungsverläufe im Lehrerberuf grob strukturieren lassen.

Das erste Stadium der beruflichen Entwicklung scheint im wesentlichen bei den meisten Lehrern gleich zu sein: Es geht ums ”Überleben” im Klassenzimmer. Nach 4 – 6 Jahren haben die meisten Lehrer dann aber ein Stadium der Stabilisierung erreicht. Hier haben sie Unterrichtskompetenzen und Routinen soweit entwickelt, daß Unterricht nicht mehr zum täglich belastenden Kampf gerät. Für das nachfolgende dritte Stadium (ca. 7. – 18. Berufsjahr) beschreibt Huberman (1989) nun unterschiedliche Verläufe. Im positiven Fall beginnt auf der Basis der nunmehr gewonnenen Sicherheit ein aktives Experimentieren und die Suche nach individuell passenden Strategien der Unterrichtsgestaltung und des Umgangs mit den Schülern. Ist dies gelungen, so entwickeln die Lehrer im nächsten Stadium (19. – 30. Berufsjahr) mit hoher Wahrscheinlichkeit eine souveräne Haltung gegenüber den Anforderungen ihres Berufs, die durch Gelassenheit und Distanz gekennzeichnet ist und in der letzten Phase (31. – 40. Berufsjahr) einen unproblematischen Ausstieg aus dem Berufsleben ermöglicht (Desengagement mit Gelassenheit).

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Neben dieser günstigen Entwicklungslinie gibt es mehrere Verlaufsmöglichkeiten, die weniger wünschbar erscheinen. So kann es nach dem Stadium der Stabilisierung auf Grund vieler Mißerfolge in der Experimentierphase, zu einer von Selbstzweifeln geprägten Neubewertung des eigenen Berufs kommen. Zwar gibt es von diesem Punkt mitunter erneute, jetzt aber erfolgreichere Anläufe zur persönlichen Berufsgestaltung (s. Querpfeil zu Gelassenheit/Distanz in der Abbildung). Wesentlich häufiger ist jedoch eine Entwicklung hin zu stark pessimistisch gefärbten Einstellungen zu beobachten („Man kann ja doch nichts machen!“; „Es lohnt sich nicht!“). Auf diesem Pfad findet sich in der letzten Phase eine recht freudlose Loslösung vom Beruf, die durch Verbitterung und starke Unzufriedenheit gekennzeichnet ist. Insgesamt fand Huberman (1989), daß die ungünstige Linie („man kann doch nichts machen“) in seiner Stichprobe schweizer Lehrer zahlenmäßig überwog.

 Außerdem ist zu bedenken, daß sich Streßerleben und Berufszufriedenheit keineswegs ausschließen. Aus der Sicht der Leistungsmotivationstheorie wäre es geradezu überraschend, wenn man dauerhaft mit Aufgaben zufrieden wäre, die die eigene Tüchtigkeit nicht herausfordern, also unbelastend sind. Auch in der modernen Streßforschung hat man die einseitig negative Bewertung von Streß aufgegeben (Schwarzer, 1993). Das Zusammentreffen von Streß und Berufszufriedenheit ist also nicht sonderlich erklärungsbedürftig. Viel wichtiger ist die Bedingungsanalyse von Streß und Unzufriedenheit bei solchen Lehrern, die ihre berufliche Tätigkeit über eine längere Zeit als schwere Belastung empfinden und deshalb auch in gesundheitlicher Hinsicht gefährdet sind. Theoretisch läßt sich hier eine Reihe situativer Faktoren spezifizieren. So könnten diese Lehrer objektiv besonders schlechte Chancen haben, Rückmeldungen zur eigenen Wirksamkeit zu erhalten, oder sie könnten auf Grund ihrer besonders hohen oder besonders niedrigen Fähigkeiten durch ”normalen” Unterricht dauerhaft unter- oder überfordert sein (zur Unterforderung vgl. Mayr, 1995). Neben solchen und anderen situativen Bedingungen lassen sich auch Personfaktoren spezifizieren. Zum Beispiel muß man mit der Möglichkeit rechnen, daß es Personen gibt, die durchaus „normale Belastungen“ als ”unerträglich”, oder ”krankmachend” erleben. Nach Terhart (1994) trifft man solche Fälle häufiger in jungen und seltener in älteren Lehrergenerationen.

Literatur

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Helmke, A. & Weinert, F.E. (1997). Unterrichtsqualität und Leistungsentwicklung: Ergebnisse aus dem SCHOLASTIK-Projekt. In F.E. Weinert & A. Helmke (Hrsg.), Entwicklung im Grundschulalter (S. 223-258). Weinheim: Beltz.
Rheinberg, F. (2000). Motivation. (3. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.
Hacker, W. (1986). Arbeitspsychologie. Bern: Huber.
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Rheinberg, F. & Krug, S. (1993). Motivationsförderung im Schulalltag. Göttingen: Hogrefe. (2. Auflage 1999)
Dweck, C.S. & Leggett, F.L. (1988). A social-cognitive approach to motivation and personality. Psychological Review, 95, 256-273.
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LeDoux, J. (1998). Das Netz der Gefühle. München: Hanser