Intellektuelle Fähigkeiten und kortikale Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen

Intellectual ability and cortical development in children and adolescents

Text Original
Text Deutsch (Deepl)

Hinweise zu dieser Studie

Es handelt sich um die bis 2006 erste Studie zum Zusammenhang von Intelligenz und Gehirnentwicklung (Kortex) bei Kindern und Jugendlichen. Die Forscher haben sich mit der Volumenveränderung des Kortex in seinen verschiedenen Regionen befasst und dabei zunächst beobachtet, was bereits bekannt war: Das Volumen des Kortex verändert sich in den Phasen, in denen die kognitiven Herausforderungen  wachsen, also etwa ab dem 3. Lebensjahr, im Verlauf der Grundschulzeit und dann vor allem mit beginnender Pubertät, die schulisch gesehen dem Eintritt in die weiterführende Schule entspricht. Bei wachsenden kognitiven Herausforderungen „sorgt das Gehirn für Effizienz“, es reduziert die Fülle der Synapsen zugunsten einer effizienteren Organisation. Das Volumen nimmt ab und steigt im Rahmen der erreichten Reorganisation anschließend erneut an. Ein zyklischer Prozess, der sich auch nach der Adoleszenz zunächst fortsetzt.

Shaw hat die Volumenänderung bei beginnender Pubertät untersucht und dabei festgestellt, dass sie bei schwächer begabten Kindern wesentlich früher einsetzt als bei Kindern mit mittlerer Begabung, und die mit hoher Begabung noch einmal später in den Umbau des Kortex eintreten. In der nachstehenden Grafik wird das veranschaulicht.

Zum Vergrößern / klicken blau: Hochbegabte optimieren erst mit 11 Jahren, bei mittlerer Begabung (grün) erfolgt sie mit 9 Jahren, bei niedrigerer (rot) mit ca. 7 Jahren.

Das jeweilige Maximum der kortikalen Dicke gilt als Indikator für die kognitive Reifung. Es wird bei den Hochbegabten bis zu vier Jahren später erreicht als bei den Kindern mit schwächerer Intelligenz.

Was heißt das nun auf der psychologischen Ebene? Grob vereinfachend: Schwächer Begabte haben ihre kognitiven Möglichkeiten bereits um das 7. Lebensjahr (auf ihrem Niveau) optimiert. Die Kinder mit mittlerer Begabung treten in die weiterführende Schule mit Lernvoraussetzungen ein, die ihrem Potenzial entsprechen; die Lernvoraussetzungen der hochbegabten Kinder liegen vor dem 11. Lebensjahr unterhalb ihres Potenzials. Die Kinder sind in den ersten beiden Jahren der weiterführenden Schule im Vergleich zu sich selbst vor einigen Jahren in ungünstiger Entwicklungsituation. Dem entspricht die Erfahrung, dass hochbegabte Kinder ein erhöhtes Risiko für Störungsentwicklungen nach Eintritt in die weiterführende Schule haben.

An dieser Stelle ist es wichtig, eine andere neurobiologische Forschungslinie einzubinden, die sich mit den Phasen der Reorganisation des Kortex befasst. A.K. Braun hat den Zusammenhang zwischen Reorganisation des Cortex und psychopathologischen Entwicklungen untersucht. Sie bezeichnet die Reorganisationsphasen für alle Kinder, nicht nur für die hochbegabten, als besonders sensibel und vulnerabel, weil der Umbau des Gehirns das Risiko für Fehlverschaltungen oder zu starken Verlust von Synapsen erhöhe. Das Risiko steige mit der Stressbelastung der Kinder, auf der neurophysiologischen Ebene mit dem Maß von Stressfaktoren wie Cortisol. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass spätere Störungsentwicklungen bedingt seien durch Einfluss von Stress bereits während der ersten sensiblen Phase.
Dieser Zusammenhang zwischen kindlicher Gehirnentwicklung und Stress während der sensiblen Phasen wird zur Zeit weltweit untersucht. (Vgl. auf dieser Seite hier    Zu A.K. Braun hier)

Die frühere Kommentierung der Studie von Shaw durch das Institut für Leistungsentwicklung (2013)

Die Übersetzungen von anatomischen und physiologischen Befunden auf die Verhaltensebene, die Psychologen untersuchen, ist eines der Risiken der explodierenden neurobiologischen Forschung. Die Verlässlichkeit der empirischen Daten ist auf deren psychologische Deutung nicht übertragbar. Die Ergebnisse von Shaw und Mitarbeitern werden in vielen Forschungszentren beachtet. Shaw selbst gibt nur an, dass der besondere Verlauf bei Hochbegabten vermutlich der Ermöglichung besonderer Leistungsfähigkeit diene. Das ist logisch, aber nicht inhaltlich. Wir wollen ja wissen, was welches Stadium und welcher Verlauf bedeuten.
Es ist immer geboten, die einfachsten Lösungen als erstes zu prüfen. Bei den Ergebnissen von Shaw heißt das, dass vergleichbare Verläufe auch vergleichbare Bedeutung haben. Shaw hat Kinder zwischen sechs und 19 Jahren in einer Längsschnittstudie untersucht (etwa 450).  Anna Katharina Braun hat eine Synapsenreduktion in der Vorschulzeit berichtet. Anzunehmen ist, dass der Cortex in beiden Episoden auf die gleiche Struktur der Realität reagiert, nämlich auf eine übermäßige Lernherausforderung.
Ein Versuch, dieses Ergebnis auf der psychologischen Ebene zu interpretieren, sollte dicht an den Funktionen bleiben: Die Cortexverdickung erweitert Speicherkapazität, die Reduktion zeigt Organisation/Konzeptualisierung an. Bei den Hochbegabten in Shaws Forschung erfolgt sie zeitversetzt zu den schwächer begabten Gruppen. Daraus muss geschlossen werden, dass bei den hochbegabten Kindern in der frühen Gymnasialzeit die kognitive Organisation/Konzeptualisierung im Vergleich zu ihren Altersgleichen schwächer ist. Sie haben eine hohe Gedächtniskapazität, so dass sie ihre Lernherausforderungen länger als die anderen ohne Reorganisation bewältigen. Diese Verzögerung sollte sich auf das Lernverhalten auswirken.
Vereinbar mit dieser Interpretation ist die Beobachtung, dass – wenn hochbegabte Kinder überhaupt Schwierigkeiten in der Schule haben – diese gehäuft in der sechsten Jahrgangsstufe einsetzen (neben einem früheren Gipfel in der dritten Jahrgangsstufe). Eine plausible Erklärung ist, dass sie den Ansprüchen des gymnasialen Unterrichts irritiert begegnen, weil sie sich in der Grundschule kaum anstrengen mussten und daher wenig Erfahrung Arbeits- und Lernerfahrung erworben haben. – Der Bericht von Shaw über eine relativ zu den normal und schwächer Begabten verspätete Cortexreorganisation ergänzt diese Erklärung. Zu der geringen Arbeits- und Lernerfahrung kommt eine Entwicklungsbesonderheit hinzu, die strukturiertes Arbeiten erschwert und das Weiter So aus der Grundschulzeit verlängert.

Die Forschungen, die zu der hier aufgenommenen Veröffentlichung geführt haben, wurden in mehreren Richtungen ausgewertet. So berichtet eine weitere Veröffentlichung für eine andere Stichprobe ebenfalls von verzögerter Gehirnreifung (entsprechend dem Indikator maximale kortikale Dicke), und zwar von Kindern mit ADHS. Näheres hier