Doppeldiagnosen und Fehldiagnosen bei Hochbegabung

Quelle im Internet    James T. Webb, Edward R. Amend, Paul Beljan, Nadia E. Webb, Marianne Kuzujanakis, F. Richard Olenchak, Jean Goerss, 20202 . Hogrefe. (Nachfolgend die Leseprobe des Verlags)

Einführung

Wenn man bestimmten Verhaltensweisen, die für hochbegabte und talentierte Per­sonen ganz normal sind, eine Diagnose zuordnen will, ist das unserer Meinung nach ein großes und zudem weitverbreitetes Problem. Es geschieht viel zu oft, dass solche Verhaltensweisen als psychisches Problem klassifiziert werden. Als Ärzte und The­rapeuten wurden wir dafür ausgebildet, Verhaltensweisen und Symptome zu bewer­ten und bestimmten Kategorien zuzuordnen. Manchmal ähneln diese Symptome einem klinischen Zustand, und schon wird das entsprechende Etikett vergeben. Bei hochbegabten Personen gibt es manchmal jedoch eine bessere Erklärung als ein Krankheitsbild.

Wir sind der Ansicht, dass Fehldiagnosen hauptsächlich darauf zurückzuführen sind, dass Vertreter der Gesundheitsberufe oft nicht über die sozialen und emotiona­len Bedürfnisse von hochbegabten Kindern und Erwachsenen Bescheid wissen. Erschwerend kommt hinzu, dass selbst Psychologen und Psychiater vielfach unge­naue Einschätzungen vornehmen.

Psychische Diagnosen werden häufig (und bedauerlicherweise) ausschließlich aufgrund von Verhaltensmerkmalen gestellt. Welche Ursachen diesen Verhaltens­weisen zugrunde liegen und ob sie im Hinblick auf den Hintergrund oder die Lebens­umstände einer Person möglicherweise normal sind, wird dabei kaum berücksich­tigt. Um entscheiden zu können, ob es sich bei bestimmten Verhaltensweisen um Symptome handelt, die eine psychische Diagnose rechtfertigen, muss außerdem das Ausmaß der Beeinträchtigungen berücksichtigt werden, die mit diesen Verhaltens­weisen einhergehen. Das bloße Vorhandensein einer Verhaltensweise bedeutet nicht, dass die Diagnose richtig ist.

Von einer Beeinträchtigung ist die Rede, wenn das Verhalten eines Individuums nicht den Erwartungen der Umgebung entspricht – wenn also eine Diskrepanz zwi­schen beobachtetem und erwartetem Verhalten besteht. Oftmals wird aber lediglich das Vorhandensein bestimmter beobachteter Verhaltensweisen als Grundlage für die Diagnose herangezogen. Viel zu selten wird bedacht, welchen Einfluss die Situa­tion auf die betreffende Person ausübt oder dass vielleicht das Umfeld für sie nicht geeignet ist. Verhaltensweisen, die in einer Umgebung als passend gelten, werden in einer anderen möglicherweise als problematisch eingestuft. Zum Beispiel ist spötti­sches Parodieren anderer lustig, wenn man gerade herumalbert; in anderen Situatio­nen wirkt es dagegen unverschämt und beleidigend.

Ebenso setzen kreative Verhaltensweisen, die ja per Definition innovativ sind, es voraus, Dinge auf eine Art und Weise zu tun, die von der Norm abweicht. Solche Abweichungen führen jedoch häufig dazu, dass andere sich unwohl fühlen, und finden erst ihre Berechtigung, wenn daraus ein kreatives Produkt entsteht.

Ein relevanter Faktor – auch wenn viele das als unbequeme Wahrheit ansehen werden – ist hierbei die Rolle kultureller Erwartungen, besonders wenn es um Min­derheiten geht, und die Häufigkeit, mit der Erzieher und medizinisches Fachperso­nal Hochbegabung und damit verbundene Aspekte übersehen und stattdessen eine Fehldiagnose für Erkrankungen wie ADHS stellen. Viele afroamerikanischen, hispa-noamerikanischen und anderen Minderheitskulturen angehörige Schüler landen in Förderklassen oder werden von ihren weißen Lehrkräften als verhaltensauffällig eingestuft. Diese Schüler werden von Lehrern nicht für eine Hochbegabtenförde­rung vorgeschlagen. Eltern aus Randgruppen wissen viel seltener Bescheid über För­dermittel für hochbegabte Kinder und Erwachsene. Häufig können sie sich auch Tests außerhalb des schulischen Rahmens nicht leisten oder wissen gar nicht, dass es Möglichkeiten gibt, um eine zweite Meinung einzuholen. Folglich haben die För­derprogramme für Hochbegabte an vielen Schulen einen unverhältnismäßig hohen Anteil an Weißen, und hochbegabten Kindern aus Minderheiten geschieht es viel häufiger, dass ihre intellektuellen Fähigkeiten übersehen und ihre Verhaltensweisen als Störungen klassifiziert werden.1

Darüber hinaus wird implizit davon ausgegangen, dass alle Menschen in jeder Situation gleich gut funktionieren. Viele Menschen in unserer Gesellschaft zeigen ungewöhnliche oder exzentrische Verhaltensweisen, die sie im Alltag nicht beein­trächtigen. Auf den ersten Blick könnten diese Verhaltensweisen für eine Vielzahl von Störungen symptomatisch sein. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass eine klinische Diagnose angemessen ist. Manchmal sind die vermeintlichen Symptome, die als Diagnosekriterien für Verhaltensstörungen oder medizinische Erkrankun­gen herangezogen werden, in Wirklichkeit normale Verhaltensweisen, die lediglich in einer bestimmten Situation als unkonventionell gelten oder generell als extrem beurteilt werden. So ist zum Beispiel die auf ein Detail gerichtete Aufmerksamkeit, je nach Ausprägung, in den meisten Fällen adaptiv, das heißt, anpassungsfähig. Ist dieses Verhalten dagegen extrem ausgeprägt, spricht man von einer Zwangsstö­rung. Beispielsweise sind die meisten angehenden Ärzte an medizinischen Fakultä­ten in einer Weise detailfokussiert, die man für zwanghaft halten könnte; tatsäch­lich sorgt diese Fokussierung aber dafür, dass sie ihre anspruchsvolle Ausbildung absolvieren können.

Außerdem scheint implizit die Annahme zu bestehen, dass Hochbegabung etwas ist, das es nur bei Kindern und Heranwachsenden gibt und das – wenn überhaupt – nur von geringer Tragweite für ungewöhnlich intelligente oder kreative Erwachsene ist. Zunehmend gibt es jedoch Literatur über hochbegabte Erwachsene und deren Probleme und Herausforderungen. Genau die Eigenschaften, die ihre Stärken ausmachen, können auch ihre Achillesferse sein, und aus ihren Verhaltensweisen kön­nen Probleme entstehen. Dies ist von verschiedenen Faktoren abhängig.

In den vergangenen circa zwanzig Jahren haben die Autoren dieses Buches – alle­samt kompetente und sehr erfahrene Fachleute in den Bereichen Psychologie, Psy­chiatrie und Kinderheilkunde – berichtet, dass viele ihrer Patienten mit Diagnosen wie ADHS, Zwangsstörung, Asperger-Störung, Störung mit Oppositionellem Trotz­verhalten oder bipolarer Störung behaftet waren, als sie bei ihnen vorstellig wurden. Bei genauerer Untersuchung stellte sich heraus, dass viele dieser Patienten völlig falsch diagnostiziert worden waren – in Wirklichkeit handelte es sich um zu Extre­men neigende, sensible und häufig willensstarke hochbegabte Individuen. Das Pro­blem war, dass die Personen im Umfeld dieser Klienten die Verhaltensweisen, die für intellektuell oder kreativ hochbegabte Menschen typisch sind, nicht hinlänglich verstanden beziehungsweise akzeptiert hatten. Die Verhaltensweisen waren in der Tat ungewöhnlich, stellten aber keine Beeinträchtigung dar und waren in manchen Fällen sogar adaptiv.

Außerdem tritt auch eine ganz andere Art von Fehldiagnose auf, und zwar dann, wenn eine Diagnose aufgrund der außerordentlichen Fähigkeiten einer Person übersehen wird. Wir sind auf viele Fälle gestoßen, in denen beispielsweise sehr kluge und intelligente Individuen tatsächlich eine Störung hatten, etwa eine Lern­schwäche. Dennoch wurden sie weder als hochbegabt noch als lernbehindert ein­gestuft, weil beide Zustandsbilder sich gegenseitig verdeckten. Die intellektuellen Fähigkeiten und die Beeinträchtigung blieben entweder verborgen oder wurden schlichtweg übersehen und bestritten. Wir erkannten, dass es sich bei diesen über­sehenen Diagnosen tatsächlich um Fehldiagnosen handelte, da die Lebensbereiche, in denen die Menschen begabt waren, keine Beachtung fanden.

Unsere Erfahrungen haben uns zu der Erkenntnis geführt, dass Fehldiagnosen häufig von Fachleuten gestellt werden, die ansonsten durchaus wohlmeinend und gut ausgebildet sind. Unserer Überzeugung nach sind Fehldiagnosen bei hochbe­gabten Kindern und Erwachsenen nicht nur ein sehr reales Problem, sondern auch ein sehr verbreitetes.

Wie ist das möglich? Wie konnte das passieren? Werden Ärzte, Psychologen, Pflegefachkräfte und andere Angehörige der Gesundheitsberufe im Laufe ihrer Ausbildung nicht in den intellektuellen und emotionalen Merkmalen hochbegab­ter Kinder und Erwachsener sowie in deren Verhaltensbesonderheiten geschult? Die Antwort lautet Nein. Tatsächlich lernen diese Fachleute, wenn überhaupt, nur äußerst wenig über die intellektuellen Merkmale und die Vielfalt hochbegabter Kinder und Erwachsener, und schon gar nichts über ihre typischen sozialen, emo­tionalen und Verhaltensmerkmale und besonderen Bedürfnisse. Dieser Mangel an Informationen ist der Hauptgrund für die häufigen Fehldiagnosen – und der Grund, warum wir dieses Buch geschrieben haben. Dies illustriert das nachfol­gende Fallbeispiel.

Mein Sohn ist drei Jahre und drei Monate alt. Ich glaube, dass er hochbegabt ist, aber weder die Kinderärztin noch der Psychologe waren bislang besonders hilfreich, was diesen Punkt betrifft. Ich weiß nicht, ob andere hochbegabte Kinder so sind wie mein Sohn, aber ich hoffe, dass Sie mir ein paar Informationen geben können. Da er mein erstes Kind ist, habe ich keine Vergleichsmöglichkeiten.

Als Säugling war er extrem aufgeweckt, aber er hat erst spät – mit zwei Jahren – angefangen zu sprechen. Da der Verdacht im Raum stand, er könnte autistisch sein, ließ ihn die Kinderärztin noch vor seinem dritten Geburtstag von einem Psychologen untersuchen, und bei einem Individualtest zur Messung seiner Intelligenz erzielte er Werte im oberen 130er-Bereich. Eine besondere Stärke zeigte er in den visuell-räum­lichen Bereichen.

Heute, sechs Monate später, spricht er seinem Alter gemäß normal. Als er anfing zu sprechen, hat er fast gleichzeitig auch angefangen zu lesen. Er liest, seit er drei Jahre alt ist. Er kann Wörter phonetisch buchstabieren, und er verfügt über ein fantastisches visuelles Gedächtnis. Außerdem schreibt er seit einiger Zeit Wör­ter, und er kann lange, komplizierte Wörter aus dem Stegreif buchstabieren, wenn man ihn dazu auffordert. Darüber hinaus kennt er schon die Zahlen und kann ein bisschen rechnen.

Er ist nicht hyperaktiv, aber von morgens bis abends sehr auf Trab. Er will ständig neue Dinge tun, die Spaß machen. Zu seinem dritten Geburtstag bekam er ein Puzzle mit den Vereinigten Staaten geschenkt, und er kann alle fünfzig Bundesstaaten auf­zählen, obwohl wir sie nur ein einziges Mal durchgegangen sind. Am darauffolgenden Morgen um sechs Uhr bat er mich, ihn die Staaten abzufragen – ich selbst war noch gar nicht richtig wach.

Er hat ein hervorragendes Gedächtnis für Formen. Kürzlich hat er ein paar Bissen von seinem Sandwich genommen und es dann hochgehalten: „Schau mal“, hat er zu mir gesagt, „das sieht aus wie Idaho!“ Und tatsächlich hatte das Sandwich genau die Form des US-Bundesstaates. Dann hat er noch ein paarmal davon abgebissen und „Ohio!“ gerufen. Ganz klar, das Sandwich hatte jetzt die Form von Ohio. Ein paar Tage später hielt er sein Nevada-Sandwich hoch. Exakt die richtige Form. Einmal sagte er wiederholt „Acht, acht“, und zeigte dabei auf das Bücherregal. Dort stehen die Laut­sprecher unserer Stereoanlage, und ich stellte fest, dass die beiden Boxen tatsäch­lich die Form einer Acht bilden.

Er verliebte sich in den Musikfilm The Sound of Music und schaute ihn drei Wochen lang jeden Tag an. Er kennt die Texte sämtlicher Lieder, die in diesem Film vorkommen, und singt sie in der perfekten Tonlage und mit viel Feingefühl und Dra­matik nach. Er brachte mich sogar dazu, herumzufahren und nach Maria – einer Figur aus dem Film – zu suchen. Dieses „nach Maria suchen“ hat mich irgendwie beunruhigt. Ist er vielleicht schizophren? Oder hyperaktiv? Oder handelt es sich um Zwänge?

Jetzt, drei Wochen später, ist die Begeisterung für The Sound of Music verflogen. So läuft das bei vielen Dingen, für die er sich interessiert. Eine Zeit lang beschäftigt er sich sehr intensiv mit einer Sache, dann geht er zur nächsten über – zurzeit sind es die Planeten.

Ich denke, die Schwierigkeit wird darin bestehen, ihn in die soziale Welt einzuglie­dern. Mein Sohn spielt nur ungern allein. In seiner Vorschule kommt er zwar gut zurecht (die anderen Kinder dort sind alle um die fünf, was gut ist, da er ältere Kinder definitiv mag), aber wenn ich mit ihm spiele, ist er rasch frustriert. Wenn er mit seinen kleinen Händen etwas noch nicht so hinkriegt, wie er es möchte, fängt er an zu wei­nen. Und er kann sehr wütend werden, wenn man ihm etwas verbietet. Allerdings wird er jetzt zusehends vernünftiger, und in der Vorschule hat er keine Wutausbrüche und weint auch nicht.

Ich schätze, ich will einfach nur, dass er ein freundliches, zufriedenes Kind ist und kein Perfektionist. Nun, da die soziale Welt immer komplexer wird (andere Kinder gewinnen bei einem Spiel, oder sie machen etwas nicht so, wie er es will), möchte ich, dass er Mittel und Wege findet, um mit solchen Situationen klarzukommen. Zum Glück besitzt er eine tolle Persönlichkeit und ist sehr lustig.

Jemand aus meinem Umfeld hat zu mir gesagt: „Wenn kleine Kinder gescheit sind, werden sie spätestens in der ersten Klasse von den anderen Kindern eingeholt.“ Ist das wirklich der Fall, wenn ein Kind mit drei Jahren anfängt zu lesen?

Manche Leute belächeln mich und meine „Probleme“ vielleicht, aber – hallo! Er ist doch wirklich ungewöhnlich, oder? Ich spreche mit fast niemandem in der Familie über diese Dinge, und auch nicht mit engen Freunden. Ich habe schon gemerkt, dass (a) einem niemand glaubt; (b) die anderen davon ausgehen, man wolle mit seinem Kind angeben (in meinem Fall habe ich nur darüber geredet, weil mir das Verhalten meines Sohnes manchmal große Angst macht und ich wissen wollte, ob es normal ist); und (c) die anderen denken, man würde sein Kind drillen und es mit Wissen voll­stopfen. Als ob es möglich wäre, einem Kleinkind das Lesen beizubringen! Vielleicht ist es ja möglich, aber selbst dann kann man einem Kind nicht beibringen, gerne und ständig zu lesen und sich darin zu vertiefen, so wie er es mit Büchern und anderen Dingen tut. Im Grunde muss ich auch gar nichts erklären, denn früher oder später wird mein Sohn ohnehin vor anderen Leuten er selbst sein.

Können Sie mir Informationen über andere Kinder geben, die wie mein Sohn sind?

Dieses Fallbeispiel beleuchtet viele der Aspekte, mit denen sich die Eltern hochbe­gabter Kinder konfrontiert sehen: das mangelnde Wissen darüber, was für intelli­gente Kinder typisch ist, die Mythen darüber, dass sich ihr Verhalten später „ausglei­chen“ werde und wie die Eltern lernen, den Diskussionen über das „ungewöhnliche“ Verhalten ihres Kindes aus dem Weg zu gehen. Sie machen sich Gedanken über die Frühreife ihres Kindes und sind vielleicht verwirrt aufgrund der Verhaltensweisen, die sie an ihm beobachten. Sie suchen Zuspruch und Bestätigung bei anderen Eltern oder vielleicht auch bei dafür ausgebildeten Fachpersonen, doch leider begegnet man ihnen allzu häufig mit Unglauben, falschen Informationen oder Kritik. Sie suchen Informationen und haben heutzutage ganz gute Chancen, online auf kor­rekte Informationen zu stoßen, doch selbst bei Therapeuten und Beratern sind fal­sche Informationen immer noch weit verbreitet.

Einer der Autoren dieses Buches beschreibt im Folgenden, wie das Thema Hoch­begabung während seines Promotionsstudiums abgehandelt wurde. Diese Art von „Schulung“ ist in der Psychologie (und in anderen Gesundheitsberufen) auch heute noch die Norm.

Mein vierjähriges Graduiertenprogramm besaß die volle Akkreditierung der Ameri-can Psychological Association, um klinische Psychologen auf Doktorandenniveau zu schulen. Im Laufe dieser vier Jahre wurde gerade einmal eine Vorlesung zum Thema hochbegabte und talentierte Kinder angeboten, und keine einzige über hochbegabte Erwachsene. Die Vorlesung dauerte weniger als eine Stunde und handelte fast aus­schließlich von den Studien, die Lewis Terman und seine Kollegen mit mehr als 1000 hochbegabten Kindern durchgeführt hatten. Diese Studien begannen in den 1920er-Jahren und dauern bis heute an. Im Wesentlichen ging es aber um die Methoden, die in Termans Längsschnittforschungen zum Einsatz kamen.

In den letzten fünf Minuten sagte der Professor dann: „Ach, übrigens, ich muss Ihnen noch ein bisschen über die Kinder selbst erzählen. Terman fand heraus, dass intellektuell hochbegabte Kinder als Gruppe hohe schulische Leistungen erzielen und dass sie sozial versierter, körperlich gesünder und emotional stabiler sind als andere. Um diese Kinder brauchen Sie sich in Ihrer klinischen Praxis also keine Gedanken zu machen.“ Dann fügte der Professor noch hinzu: „Ach ja: Sollten Sie je ein solches Kind mit dem Wechsler-Intelligenztest oder einem anderen Test evaluieren, können Sie damit aufhören, sobald ein IQ-Wert von 130 erreicht ist, denn die Werte oberhalb dieser Marke spielen sowieso keine Rolle.“ In den nächsten Vorlesungen wandte sich der Professor dann anderen Kategorien außergewöhnlicher Kinder zu, um die wir uns seiner Meinung nach sehr wohl Gedanken machen sollten.

Terman und seine Kollegen (Cox, 1926; Terman, 1925; Terman, Burks & Jensen, 1935; Terman & Oden, 1947, 1959) fanden im Wesentlichen heraus, was der Profes­sor berichtete. Was dieser Professor allerdings nicht erwähnte, waren die späteren Ergebnisse aus Termans Studien (z. B. Coleman, 1980). Wie sich nämlich heraus­stellte, zeigten 20 Prozent von Termans Studienteilnehmern Underachievement oder emotionale Probleme. Außerdem versäumte der Professor, einige Schwach­stellen zu erwähnen, die die Ergebnisse von Termans Studie beeinflussten.

Ohne sich dessen bewusst zu sein, arbeitete Terman bei der Auswahl seiner Stu­dienteilnehmer mit einem Selektionsbias, der dazu führte, dass nur solche Kinder auf­genommen wurden, bei denen ohnehin keine große Verhaltensabweichung gegen­über der Norm zu erwarten war. Die Kinder in Termans Studie wurden ausgewählt, weil sie (a) die jüngsten in der Klasse waren, (b) bei einem Gruppentest gut abgeschnit­ten hatten, (c) von ihrem Lehrer empfohlen worden waren und (d) bei einem individu­ell durchgeführten Intelligenztest (dem Stanford-Binet) herausragende Ergebnisse erzielt hatten. Kurzum, die intellektuellen Bedürfnisse dieser Kinder waren identifi­ziert worden, und in ihrem schulischen Umfeld wurde entsprechend darauf eingegan­gen. Darüber hinaus wurden die Kinder akzeptiert, und sie waren nicht isoliert.

Die hochbegabten Kinder, die Termans Auswahlkriterien erfüllten, besaßen also von vornherein eine gute intellektuelle, schulische, soziale und emotionale Funk­tionsfähigkeit. Die Studienteilnehmer waren keine Underachiever, und sie hatten auch keine signifikanten sozialen oder emotionalen Probleme.

Darüber hinaus standen Terman und seine Mitarbeiter in engem Kontakt mit den Familien der Kinder. Mindestens einmal, manchmal sogar zwei- oder dreimal pro Jahr fanden persönliche Treffen oder Telefongespräche statt, um den Familien bei der Bildungsplanung, innerfamiliären Problemen, dem Umgang mit Gleichaltri­gen etc. zu helfen. Diese fürsorgliche Beratung und Unterstützung trug zweifellos dazu bei, die soziale, emotionale und letztlich auch die schulische Funktionsfähig­keit der Kinder zu fördern. Wenn alle hochbegabten Kinder solche Dienste in Anspruch nehmen könnten, würde man sie auch besser verstehen und fördern, und sie hätten heute mit weniger Schwierigkeiten zu kämpfen. Der Bedarf an diesem Buch wäre ebenfalls deutlich geringer.

Zu der Zeit, als Terman seine Studie begann, herrschte die Auffassung vor, intel­lektuell frühreife Kinder seien besonders anfällig für soziale, nervöse und psychi­sche Störungen. „Früh gereift, früh verfault“, hieß es damals. Wenn sich ein Kind früh entwickelte, würde es später einen hohen sozialen und emotionalen Preis dafür zahlen und womöglich als Versager enden. Terman und seine Kollegen wollten diese Annahme widerlegen und waren daher hocherfreut, dass ihre Studie zu anderen Ergebnissen gelangte. Leider trugen Termans Forschungen vermutlich dazu bei, die öffentliche Meinung zu weit in die entgegengesetzte Richtung zu lenken.

Die meisten klinischen Psychologen, klinischen Sozialarbeiter, Psychiater, Kin­derärzte oder andere Vertreter der Gesundheitsberufe lernen heutzutage in ihrer Ausbildung überhaupt nichts über die Merkmale und besonderen Bedürfnisse von hochbegabten Kindern oder hochbegabten Erwachsenen.2 Hin und wieder wird für diese Zielgruppe ein Artikel über dieses Thema geschrieben, etwa „Gifted and talen-ted children: Issues for pediatricians“ (Robinson & Olszewski-Kubilius, 1996), „The role of physicians in the lives of gifted children“ (Amend & Clouse, 2007), „The ante-cedents of misdiagnosis: When normal behaviors of gifted children are interpreted as pathological“ (Amend & Beljan, 2009), „Discovering gifted children in pediatric practice“ (Liu, Lien, Kafka & Stein, 2010) oder „Gifted children and adults: Neglec-ted areas of practice“ (Webb, 2014), aber im Großen und Ganzen gibt es in diesem Bereich keine Weiterbildungen.

Die SENG-Initiative „Fehldiagnosen“ hat dazu beigetragen, ein tieferes Bewusst­sein für die einzigartigen Charakteristika von Hochbegabung, die in diesem Zusam­menhang möglicherweise auftretenden Probleme und die Risiken für Fehldiagno­sen zu schaffen. Organisationen wie die American Academy of Pediatrics haben dazu beigetragen, ein besseres Verständnis für die Belange Hochbegabter und zwei­fach Außergewöhnlicher zu erlangen sowie für die Möglichkeiten, wie Kinderärzte diese Informationen zur vorausschauenden Begleitung von Betroffenen und deren Eltern einsetzen können.3 Die meisten Fachpersonen aus Gesundheitswesen und Erziehung scheinen jedoch immer noch an den Mythen festzuhalten, dass hochbe­gabte Kinder nur äußerst selten weitere besondere Herausforderungen haben, mit wenigen unterstützenden Maßnahmen (oder auch gar keinen) bestens alleine zurechtkommen und dass hohe intellektuelle oder kreative Fähigkeiten keinerlei Auswirkungen auf Diagnosen oder Therapien haben.

Was genau ist mit dem Begriff „hochbegabt“ gemeint?

Hochbegabt ist nicht dasselbe wie genial und tatsächlich eine Eigenschaft, die auf weit mehr Individuen zutrifft, als gemeinhin erkannt wird. Eine Person kann bei­spielsweise außergewöhnlich hohe Fähigkeiten in einem oder zwei Bereichen haben und bei allen anderen Fähigkeiten nur durchschnittlich oder sogar unterdurch­schnittlich abschneiden. Gleichwohl scheinen die meisten Menschen immer noch zu erwarten, dass hochbegabte Kinder oder Erwachsene in allen Bereichen außer­gewöhnlich hohe Fähigkeiten besitzen.

Während die Gesundheitsberufe hochbegabten Individuen im Allgemeinen wenig Aufmerksamkeit schenken, wird im pädagogischen Bereich deutlich mehr über Hochbegabung geschrieben. Pädagogische Fachpersonen bestätigen zwar, dass hochbegabte Menschen anderen in ihrer Entwicklung voraus sind, aber ihr Schwerpunkt liegt eher auf der Definition und Identifizierung von hochbegabten Individuen – ein Punkt, der nach wie vor umstritten ist. Wie bei den meisten mensch­lichen Merkmalen handelt es sich bei der Hochbegabung um eine komplexe Kons­tellation von Verhaltensweisen, die auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck kom­men können, und es herrscht große Uneinigkeit darüber, welche Verhaltensweisen besonders ausgeprägt sein müssen, um ein Kind oder einen Erwachsenen als hoch­begabt einzustufen.

Wir werden in diesem Buch nicht allzu ausführlich auf die Definition von Hoch­begabung eingehen, wenngleich wir im nächsten Kapitel die Merkmale beschreiben, die für hochbegabte Kinder und Erwachsene kennzeichnend sind. Was diesen Punkt betrifft, so werden wir unsere Leser an andere Quellen verweisen, die im Literatur­teil am Ende dieses Buches zu finden sind. Für den Moment möge die Definition genügen, an der sich die Gesetzgebung der meisten US-Bundesstaaten orientiert: Hochbegabte Kinder und Erwachsene sind anderen in ihrer Entwicklung voraus und gehören in einem oder mehreren der folgenden Bereiche zu den begabtesten drei bis fünf Prozent der Bevölkerung:

    • Allgemeine intellektuelle Begabung
    • Spezifische akademische Begabung
    • Kreatives Denken
    • Bildende oder darstellende Künste
    • Führungsqualität

Die National Association for Gifted Children (2010) empfiehlt, die Definition brei­ter zu fassen: „Hochbegabte Individuen weisen ein außerordentliches Niveau an Eignung (definiert als außerordentliche Denk- und Lernfähigkeit) oder Kompetenz (dokumentierte Leistung oder Erfolg unter den oberen 10 %) in einer oder mehreren Domänen auf.“4 Diese neue Definition, die speziell Erwachsene miteinschließt, ist aus zwei Gründen besonders bemerkenswert. Erstens wird durch sie die Prozentzahl der als hochbe­gabt angesehenen Kinder und Erwachsenen mehr als verdoppelt, und zweitens ver­zichtet sie auf die Anforderung, dass eine Person zwangsläufig in allen Bereichen hochbegabt, also „umfassend hochbegabt“ sein müsse. Dies deckt sich absolut mit unserer Erfahrung mit talentierten Menschen, die in einem Bereich unglaublich kompetent oder geschickt sind – aber nicht zwangsläufig in allen Bereichen. Manche von ihnen haben vielleicht sogar eine Lernschwäche in einem oder mehreren Berei­chen und sind gleichzeitig auf anderen Gebieten hochbegabt.

Ganz gleich, ob wir sie nun als die oberen drei bis fünf Prozent oder als die oberen zehn Prozent definieren: Hochbegabte Individuen sind eine Minderheit, und je höher ihr IQ-Niveau ausfällt, desto einzigartiger sind sie. IQ-Werte stellen zwar keine Verhältnisskala dar, aber wie Tabelle 1 zeigt, ist es durch sie dennoch möglich, sich ein erstes Bild von der Häufigkeit (oder der Seltenheit) des Auftretens verschie­dener Stufen von Hochbegabung zu machen.

Ebenso ist bemerkenswert, dass die Kategorie der Hochbegabung ein Spektrum an Fähigkeiten umfasst, das von leicht erhöhter Intelligenz bis weit in den sogenann­ten Geniebereich hineinreicht. Tatsächlich „… decken die obersten 1 % der Schüler in fast jeder Fähigkeits- oder Leistungsverteilung ein Spektrum ab, das ebenso breit ist wie das von der 2. bis zur 98. Perzentile umfasste Spektrum … die IQ-Werte der oberen 1 % der Kinder (135 bis über 200) weisen ein ebenso breites Spektrum auf wie die Werte zwischen der 2. Perzentile (IQ 64) und der 98. (IQ 132).“5 Demnach ist es nicht überraschend, dass hochbegabte Kinder und Erwachsene im Vergleich zu den meisten anderen Menschen ungewöhnliche Verhaltensweisen zeigen, denn mit zunehmenden Fähigkeiten geht auch eine zunehmend unausgeglichene Entwick­lung einher.6

Außerdem muss betont werden, dass Hochbegabung bei Erwachsenen nicht zwangsläufig mit Berühmtheit einhergeht. Rinn und Bishop (2015) merken an:

Hochbegabung kann als inhärente Fähigkeit angesehen werden, außergewöhn­liche Leistungen innerhalb einer bestimmten Begabungsdomäne zu erbringen. Dies gilt nicht zwangsläufig für das Ergebnis dieses Talents. Nicht alle hochbegabten Erwachsenen streben danach, mit ihrer Begabung Ruhm zu erlangen. Sie haben auch nicht immer Gelegenheit dazu. Wenn Berühmtheit als Voraussetzung für die Klassifikation als „hochbegabter Erwachsener“ festgelegt wird, wenn Ergebnisse oder Produkte notwendige Kriterien werden, kommt es zu Ungerechtigkeiten, und wir missachten die Rolle des freien Willens bei der Entscheidung, wie Begabungen eingesetzt werden. Deshalb empfehlen wir, Hochbegabung und Berühmtheit bei Erwachsenen in der Forschung zukünftig als voneinander unabhängige Konstrukte zu untersuchen.

Tabelle 1: Wie häufig tritt welche Stufe von Hochbegabung bei Kindern auf? (Borland & Gross, 2007, S. 159)

Stufe IQ-Bereich Häufigkeit
Leicht 115–129 1 : 6 bis 1 : 40
Moderat 130–144 1 : 40 bis 1 : 1000
Stark 145–159 1 : 1000 bis 1 : 10 000
Außerordentlich 160–179 1 : 10 000 bis 1  : 1 Million
Höchstgradig 180 + Seltener als 1 : 1 Million

Tragen hochbegabte Kinder und Erwachsene ein besonderes Risiko für soziale und emotionale Probleme?

Dr. Leta Hollingworth, eine frühe Psychologin und Zeitgenossin von Terman, be – tonte bereits in den 1920er- und 30er-Jahren, dass hochbegabte Kinder für be stim-mte Probleme anfälliger seien. Außerdem wies sie darauf hin, dass es einen optima­len Intelligenzbereich gebe, der bei einem IQ zwischen 120 und 145 angesiedelt sei. Innerhalb dieser Bandbreite, so Hollingworth, sei das Risiko für soziale oder emotio­nale Probleme unter normalen Umständen eher gering, da diese Menschen intel­ligent genug seien, um in Schule und Beruf erfolgreich zu sein, aber nicht so intelli­gent, dass sie beim Umgang mit anderen Menschen größere Probleme hätten. Ihrer Hypothese nach könnte man die meisten Führungspersönlichkeiten unserer Gesell­schaft dieser Bandbreite zuordnen. In ihrem bahnbrechenden Buch Children above 180 IQ (Hollingworth, 1975) kam sie aufgrund ihrer Forschungen zu dem Ergebnis, dass Personen über dem optimalen Intelligenzbereich ein signifikantes Risiko für Entfremdungsgefühle tragen, eine Annahme, die bis heute gewisse Unterstützung findet (z. B. Brody & Benbow, 1986; Delisle, 1999; Shaywitz et al., 2001; Webb, 2013). Unglücklicherweise starb Hollingworth noch bevor ihre Ideen die volle Auf­merksamkeit der Fachwelt auf sich zogen, und ihr Werk geriet fast in Vergessenheit (Klein, 2002).

Im Jahr 1972 stellte der Marland-Report des US-amerikanischen Kultusministe­riums fest: „Hochbegabte und talentierte Kinder werden in der Tat benachteiligt und können psychische Schädigungen und eine dauerhafte Beeinträchtigung ihrer Funktionsfähigkeiten erleiden (…)“ (Marland, 1972). Leider war der Mythos – hoch­begabte Kinder hätten, wenn überhaupt, nur wenige besondere Bedürfnisse – zu jenem Zeitpunkt bereits fest in der Gesellschaft verankert, und die Warnungen die­ses Berichts an den Kongress verhallten ungehört.

Heute gibt es zwei Lehrmeinungen darüber, ob hochbegabte Kinder ein beson­deres Risiko für soziale und emotionale Schwierigkeiten tragen. Die eine Gruppe von Autoren betrachtet hochbegabte und talentierte Kinder als besonders problem­anfällig. Ihrer Meinung nach brauchen diese Kinder besondere Interventionen, die ihnen helfen, ihre einzigartigen Schwierigkeiten zu überwinden, beziehungsweise verhindern, dass solche Schwierigkeiten überhaupt entstehen (z. B. Altman, 1983; Delisle, 2015; Hayes & Sloat, 1989; Lovecky, 2004; Silverman, 1991; Webb, 2013). Die andere Gruppe vertritt die Auffassung, dass hochbegabte Kinder im Allgemei­nen ganz gut allein zurechtkommen und dass hochbegabte Kinder mit Problemen und speziellem Interventionsbedarf eher eine Minderheit darstellen (z. B. Janos & Robinson, 1985; Neihart, Pfeiffer & Cross, 2015; Neihart, Reis, Robinson & Moon, 2002; Robinson, Shore & Enerson, 2006).

In der Tat kam eine von der National Association for Gifted Children geförderte Veröffentlichung (Neihart, Reis, Robinson & Moon, 2002) zu dem Schluss, dass hochbegabte Kinder als Gruppe weder mehr noch weniger anfällig für soziale und emotionale Schwierigkeiten seien als andere Kinder. Allerdings nannten die Auto­ren einige Risikofaktoren, beispielsweise Perfektionismus oder asynchrone Ent­wicklung, und sie betonten, dass mehr Forschungen erforderlich sind. Was hochbe­gabte Erwachsene betrifft, so gibt es noch weniger Forschungen, und alle bisherigen Erkenntnisse stammen aus klinischen Studien.

Diese beiden Sichtweisen sind gar nicht so widersprüchlich, wie sie auf den ers­ten Blick erscheinen mögen. Jene Autoren, die zu dem Schluss kommen, hochbe­gabte Kinder kämen ganz gut zurecht, haben sich in der Regel auf Schüler aus akade­mischen Programmen konzentriert, die speziell für hochbegabte Kinder angelegt waren. Für gewöhnlich funktionieren solche Kinder gut in der Schule – was schon in der Natur des Auswahlprozesses begründet ist – und haben folglich auch keine grö­ßeren sozialen oder emotionalen Probleme. Allerdings kann davon ausgegangen werden, dass die Stichprobe der hochbegabten Kinder, mit denen geforscht wird, aufgrund dieser Auswahlverfahren nicht besonders repräsentativ ist, denn sie schlie­ßen jene hochbegabten Kinder aus, die wegen ihrer sozialen und emotionalen Prob­leme in der Schule nicht die Leistungen erbringen, zu denen sie eigentlich fähig wären, und daher nicht in speziellen Programmen für hochbegabte Kinder gefördert werden. Durch diese Stichprobenverzerrung werden soziale und emotionale Prob­leme mit hoher Wahrscheinlichkeit unterschätzt. Im Gegensatz dazu stützen sich diejenigen Autoren, die regelmäßig von sozialen und emotionalen Problemen bei hochbegabten Kindern berichten, häufiger auf Daten aus klinischen Settings und aus individuellen Fallstudien, bei denen die Population sich selbst dazu entschlossen hatte, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Folglich tritt mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Stichprobenverzerrung auf, die die Inzidenz sozialer und emotionaler Schwierigkei­ten überschätzt.

Beide Sichtweisen haben zumindest teilweise ihre Berechtigung. Hochbegabte Kinder, die in der Schule identifiziert werden, erhalten mit größerer Wahrschein­lichkeit Fördermaßnahmen, die im Idealfall vielen ihrer Bedürfnisse gerecht wer­den. Und wenn sie in der Schule gut funktionieren, funktionieren sie häufig auch in anderen Lebensbereichen gut, das heißt, sie tragen kein besonderes Risiko für soziale und emotionale Probleme, vor allem dann nicht, wenn das Schulprogramm aktiv auf ihre schulischen und sozialen Bedürfnisse eingeht.

Auf der anderen Seite gibt es genügend Kinder mit hohem Potenzial, die nicht als hochbegabt identifiziert werden und auch keine speziellen Fördermaßnahmen erhalten, weil sie soziale und emotionale Probleme haben, die sich oftmals schon in den ersten Schuljahren entwickeln, also zu einem Zeitpunkt, zu dem kaum Versuche unternommen werden, diese Kinder zu identifizieren und entsprechend zu unter­stützen (Ballering & Koch, 1984; Webb, 1993).

Manche Schüler werden gerade wegen ihrer sozialen und emotionalen Probleme sogar von Förderprogrammen und -maßnahmen für Hochbegabte ausgeschlossen. Dadurch verringern sich die Chancen, dass diese Schüler Maßnahmen erhalten, die ihnen helfen würden, die sozialen und emotionalen Schwierigkeiten zu lindern, die zu ihrem Ausschluss führten – ein unlösbares Dilemma. Bei anderen Schülern, die zu ethnischen Minderheiten gehören, ist es möglicherweise der Fall, dass ihre Hochbe­gabung gar nicht erkannt wird. Aus historischen Gründen wurde ethnische und kultu­relle Diversität bei der Identifizierung und Förderung hochbegabter Kinder nur man­gelhaft berücksichtigt, was das Risiko für die Entwicklung sozialer und emotionaler Probleme sowie für Fehldiagnosen erhöhte (Beljan, 2011; Davis, 2010; Ford, 2011).

Wenn diese Schüler in die dritte oder vierte Klasse kommen, sind viele von ihnen bereits Underachiever, das heißt, es ist unwahrscheinlich, dass sie überhaupt für eines der häufig intensiveren Förderprogramme für hochbegabte Schüler in Betracht gezogen werden. Wenn Kinder egal welcher Schulart oder Klassenstufe, die eigent­lich für spezielle Hochbegabten-Förderprogramme qualifiziert wären, aufgrund von sozialen, emotionalen oder Verhaltensproblemen – allen Gesetzen und Regelungen zum Trotz – nicht aufgenommen werden, verschärfen sich ihre Probleme. So ist es zum Beispiel sehr unwahrscheinlich, dass Schüler, denen eine Zwangsstörung oder eine Störung mit Oppositionellem Trotzverhalten diagnostiziert wurde, in ein Pro­gramm aufgenommen werden, das ihre hohen intellektuellen Fähigkeiten oder ihr hohes kreatives Potenzial fördert. Ein solches Programm könnte allerdings einen Teil der identifizierten Probleme abschwächen. Entweder wird die Hochbegabung dieser Schüler nicht entdeckt, weil sie Probleme haben, oder sie werden als hoch­begabt identifiziert, erhalten aufgrund ihrer Probleme aber keine angemessenen schulischen Anpassungen. In beiden Fällen erhalten die Schüler nicht die Förde­rung, die sich sowohl auf ihre Lebensqualität als auch auf ihren Lernfortschritt posi­tiv auswirken würde.

In der zweiten Klasse wurde Amari wegen seiner Verhaltensprobleme in der Schule an ein gemeindepsychiatrisches Zentrum überwiesen. Die Schulvertreter glaubten, Amari leide an einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und benötige Medikamente. Bei der Evaluation stellte sich dann heraus, dass Amari zwar ein paar der Symptome zeigte, die oft mit ADHS in Verbindung gebracht werden, aber auch ein erstaunliches Hochbegabungsmuster aufwies. Tatsächlich lagen seine in­tellektuellen und akademischen Fähigkeiten bei der 99. Perzentile seiner Alters­gruppe, eventuell sogar darüber.

Diese Testergebnisse wurden Amaris Schule vorgelegt, zusammen mit einer ein­dringlichen Empfehlung des klinischen Psychologen, die Schule solle Amari ein diffe­renziertes Förderprogramm anbieten, um seiner Hochbegabung angemessen zu begegnen. Solche schulischen Anpassungen würden den Bedürfnissen des Jungen besser gerecht, so der Psychologe, und könnten auch seine Verhaltensprobleme mil­dern, vor allem, wenn sie in Verbindung mit einfachen Strategien zur Verhaltensmo­difikation erfolgten.

Doch selbst diese Daten von einem Experten konnten die Schule nicht dazu bewegen, Amari in ein Hochbegabtenprogramm aufzunehmen. Stattdessen schickte sie ihn in eine Klasse für Kinder mit emotionalen und Verhaltensstörungen. Wie vor­herzusehen war, erwies sich dieser Weg als unproduktiv, und Amaris Verhaltenspro­bleme wurden nicht besser. Daraufhin schrieben Amaris Eltern ihren Sohn auf einer Privatschule ein, obwohl sie sich das eigentlich gar nicht leisten konnten.

Zu der Gruppe von hochbegabten Kindern, die von ihrer Schule nicht als solche iden­tifiziert werden, gibt es so gut wie keine empirischen Studien. Das liegt daran, dass solche potenziellen Studienteilnehmer im Rahmen der allgemein anerkannten For­schungsdesigns nur schwer auszumachen sind. Außerdem betrachten manche For­scher nur solche Kinder als hochbegabt, die in der Schule besonders gute Leistungen erzielen. Ironischerweise haben andere Studien jedoch gezeigt, dass die soziale und emotionale Anpassung hochbegabter Kinder sehr stark dadurch beeinflusst wird, in welchem Maße ihren besonderen schulischen Bedürfnissen entsprochen wird (Nei-hart, 1999; Neihart, Reis, Robinson & Moon, 2002). Kinder, die nicht als hochbe­gabt identifiziert werden und/oder nicht die entsprechende Förderung bekommen, haben in der Schule – und möglicherweise auch in ihrem Erwachsenenleben – mit hoher Wahrscheinlichkeit größere Schwierigkeiten.

Hochbegabung ist kein Begriff, der nur auf intelligente Kinder zutrifft. Auch Erwachsene sind hochbegabt. Tatsächlich entwickelt sich Hochbegabung über die gesamte Lebensspanne eines Menschen hinweg und wird nicht nur durch seine angeborenen Eigenschaften, sondern in gleichem Maße auch durch seine Lebens­erfahrung, die Umstände im Gesamtsystem der Welt und seine Fähigkeit zur Selbst­regulation geprägt.7 Die meisten Forschungen zu Hochbegabung konzentrieren sich jedoch auf Kinder. Über hochbegabte Erwachsene wird wenig geforscht – als ob die Hochbegabung im späteren Leben irrelevant wäre oder nicht mehr existieren würde (Fiedler, 2015). Unsere Praxis zeigt, dass das genaue Gegenteil der Fall ist. Immer wenn wir mit Eltern über ihre hochbegabten Kinder sprechen, kommt üblicherweise ein Elternteil zu der Erkenntnis, dass wir nicht nur über das Kind, sondern auch über ihn bzw. sie selbst sprechen. Manche Forscher haben einen Zusammenhang zwischen Kreativität und bipolaren und/oder depressiven Zuständen nahegelegt (z. B. Andreasen, 2008; Jamison, 1996; Ludwig, 1995; Piirto, 2004). Es wurden jedoch beträchtliche Mängel in den Forschungsdesigns dieser Wissenschaftler entdeckt (Kaufman, 2013; Schlesinger, 2012). Andere haben darauf hingewiesen, dass bei hochbegabten Jugendlichen und Erwachsenen häufiger existenzielle Depressionen (Webb, 2013), Alkoholkonsum (Kanazawa & Hellberg, 2010), illegaler Drogenkon­sum (White & Batty, 2012; Wilmoth, 2012), Essstörungen (Kerr & Robinson-Kur-pius, 2004), zwischenmenschliche Probleme (Jacobsen, 1999; Streznewski, 1999) und Eheprobleme (Kerr & McKay, 2014; Kerr & Cohn, 2001) auftreten würden.

Wo es keine Forschungen gibt, müssen sich Fachleute auf ihre eigenen Erfahrun­gen und auf ihre Beobachtungsgabe in der klinischen Praxis verlassen. In der Tat stehen klinische Beobachtungen und Fallstudien am Anfang vieler Forschungen. Aus unserer klinischen Perspektive sind hochbegabte Kinder und Erwachsene, wie bereits erwähnt, zweifellos stärker gefährdet, bestimmte Störungen zu entwickeln. Man sollte auch in Betracht ziehen, dass bestimmte Aspekte der Hochbegabung möglicherweise sogar eine Schlüsselrolle bei bestimmten Störungen spielen, wie etwa Asperger (jetzt im DSM-5 unter dem Oberbegriff Autismus-Spektrum-Störung gefasst, in der ICD dagegen als Asperger-Syndrom bezeichnet), der existenziellen Depression oder der im DSM-5 neu hinzugekommenen Sozialen (Pragmatischen) Kommunikationsstörung. Unserer Erfahrung nach gibt es aber dennoch eine große Zahl an Fehldiagnosen, und es wird sich zeigen, ob das Problemverhalten vieler nicht vermeidbar wäre oder sich rasch bessern würde, wenn hochbegabte Kinder und Erwachsene auf ein besseres Verständnis ihrer Verhaltensweisen und auf mehr Akzeptanz und Orientierungshilfe stoßen und hochbegabte Kinder eine geeignete Lernumgebung vorfinden würden.

In diesem Buch finden sich zahlreiche Fallbeispiele von hochbegabten Indivi­duen. Die meisten von ihnen kommen gut im Leben zurecht, wenn ihren schulischen und emotionalen Bedürfnissen entsprochen wird. Außerdem verringert sich die Wahrscheinlichkeit für soziale und emotionale Probleme bei hochbegabten Erwach­senen, wenn sie ihre Einzigartigkeit verstehen und auf eine unterstützende Gemein­schaft sowie zumindest ein paar gute Kontakte bauen können (Fiedler, 2015; Nauta & Ronner, 2013; Webb, 2013). Umgekehrt gibt es aber auch Beispiele von Kindern, die falsch diagnostiziert und unangemessen behandelt werden und deren Geschich­ten sich weitaus weniger erfolgreich lesen.

Die verschiedenen diagnostischen Kategorien, die in den folgenden Kapiteln verwendet werden, mögen fachfremden Lesern mitunter merkwürdig erscheinen. Die Begrifflichkeiten stammen vorwiegend aus der 5. Auflage des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-5) der American Psychia-tric Association (2018) und der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) von 2015, die in den meisten öffentlichen Bibliotheken ausliegen. Das DSM-5 wird standardmäßig von Ärzten, Psychologen, klinischen Sozialarbeitern und Beratern in den Vereinigten Staaten herangezogen. Außerhalb der Vereinigten Staaten verwenden diese Fachpersonen die ICD-10. Es ist geplant, diese beiden Sys­teme in den nächsten Jahren in der ICD-11 zu vereinen, dessen Verwendung für alle Mitgliedsstaaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorgeschrieben wird. Die DSM-Diagnosen sollen dann nur als Richtschnur für die ICD-Diagnosen gelten. Die diagnostischen Kategorien stellen den jüngsten Versuch im Bereich der psychischen Gesundheit dar, ein nützliches Rahmenwerk zu entwickeln, welches behandlungs­bedürftige medizinische oder psychische Zustände so beschreibt, dass sich daraus klar abgegrenzte Diagnosen ableiten lassen. In den folgenden Kapiteln haben wir die Diagnosen so gruppiert, dass ihre Verbindung mit hochbegabten Kindern und Erwachsenen deutlich wird.

Wir hoffen, dass dieses Buch Fachleuten und Eltern Richtlinien an die Hand gibt, die häufiger zu korrekten Diagnosen und entsprechenden Behandlungen führen. Unser Ziel ist außerdem, Fachpersonen dabei zu helfen, Betroffene angemessen zu beraten und ihnen so unnötiges Leid und Unannehmlichkeiten zu ersparen. Darüber hinaus hoffen wir, dass dieses Buch einen Anstoß zu mehr Forschungen über das wichtige Thema Fehldiagnosen und Dualdiagnosen bei hochbegabten, talentierten und kreativen Kindern und Erwachsenen geben wird.

Anmerkungen

1    Siehe Beljan, 2011; Davis, 2010; Ford, 2011.
2    Wie ein Autor des vorliegenden Buches berichtet: „Während meines Psychologiestudiums habe ich überhaupt keine Informationen über die sozialen oder emotionalen Bedürfnisse von Hoch­begabten bekommen. Das Einzige, was während meines Studiums zum Thema ‚besondere In­telligenz‘ zur Sprache kam, war der höhere Abstraktionsgrad der Fragen des Wechsler-Intelligenztests (WISC) gegenüber anderen Verfahren.“ Das ist bedauerlicherweise die Regel. Die überwiegende Mehrheit der pädagogischen Ausbildungsprogramme bietet nur wenig – oder gar keine – Möglichkeiten, zu lernen, wie mit den kognitiven oder affektiven Bedürfnissen hoch­begabter Kinder umzugehen ist.
3    Die Non-Profit-Organisation SENG (Supporting Emotional Needs of the Gifted) versucht, die­se Situation durch Fortbildungsveranstaltungen für Psychologen und andere Fachpersonen so­wie durch die SENG-Initiative „Fehldiagnosen“ (http://sengifted.org/programs/seng-misdia-gnosis-initiative) zu verbessern.
4 http://www.nagc.org/sites/default/files/Position%20Statement/Redefining%20Gifted-ness%20for%20a%20New%20Century.pdf
5    Borland & Gross, 2007, S. 159.
6    Webb und Kleine (1993) sowie andere haben diese Daten zusammengefasst.
7   Olenchak (2009a) verwendet das Wort Meta-Affekt zur Beschreibung der Fähigkeit, die eige­nen persönlichen Emotionen das ganze Leben lang durch eine affektive und eine kognitive Linse zu beobachten und zu kontrollieren (Goldin, 2004). Auf dieselbe Weise wie Metakognition wichtig ist, um die eigenen Gedanken und Ideen zu beurteilen, befähigt Meta-Affekt Individuen dazu, Selbstkontrolle und exekutive Funktionen in angemessener Form auszuüben. Eine derar­tige Selbstkontrolle ist in allen Lebensphasen wesentlich für die Entwicklung und spielt eine ganz besondere Rolle bei der Entwicklung und Selbstverwirklichung hochbegabter Menschen im Erwachsenenalter.

 

Kapitel 1:  Merkmale von hochbegabten Kindern und Erwachsenen

Um festzustellen, ob bestimmte Verhaltensweisen auf eine Störung zurückgehen oder ob sie zu einem Zustand gehören, den wir als Hochbegabung bezeichnen, muss man zunächst die Verhaltensweisen kennen, die am häufigsten mit hochbegabten Kindern und Erwachsenen assoziiert sind. Denn ohne dieses Wissen kann man weder das Verhalten beurteilen noch wie stark dieses die emotionale oder mentale Funktionsfähigkeit eines Individuums beeinträchtigt.

Der Begriff „hochbegabt“ ist eine breit gefächerte Kategorie und dient der Beschreibung einer heterogenen Gruppe von Personen, die in einem oder mehreren der folgenden Bereiche „ein außergewöhnliches Leistungsniveau oder -potenzial“ zeigen:1

    • Allgemeine intellektuelle Begabung
    • Spezifische akademische Begabung
    • Kreatives Denken
    • Führungsqualität
    • Bildende oder darstellende Künste

Diese Definition deckt ein breites Spektrum an Fähigkeiten ab, das über die einfache akademische Intelligenz, ein bestimmtes Talent oder eine besondere Fähigkeit hin­ausreicht. Eine Person kann in einem oder auch in mehreren der oben angeführten Bereiche hochbegabt sein. Nur selten ist jemand in allen diesen Bereichen gleicher­maßen hochbegabt, aber viele Hochbegabte zeigen außergewöhnliche Fähigkeiten oder ein besonderes Potenzial in zwei, drei oder sogar vier dieser Bereiche. Eine Per­son kann auch auf einem sehr speziellen Gebiet (z. B. handwerkliches Geschick, Musik, Mathematik) hochbegabt und in anderen Bereichen nur „durchschnittlich“ sein. Obwohl sie auch für Erwachsene gelten, beziehen sich diese Kategorien meist auf Kinder und ihre schulischen Erfahrungen.

Wie verbreitet ist Hochbegabung? Wie außergewöhnlich müssen die Fähigkei­ten oder Potenziale von Kindern sein, um sie als hochbegabt zu betrachten? Nicht alle intelligenten Kinder sind hochbegabt, und nicht alle hochbegabten Kinder sind Genies. Die meisten Experten gehen davon aus, dass Kinder, deren Fähigkeitsniveau im Bereich der oberen drei bis fünf Prozent der Allgemeinbevölkerung liegt, als hoch­begabt einzustufen sind, und dieser Prozentsatz wird auch in den gesetzlichen Regelungen der meisten US-Bundesstaaten verwendet (Karnes & Johnson, 1986). Diese Prozentzahlen entsprechen denen von Kindern, die als geistig behindert gelten. Die meisten Fachleute stimmen außerdem darin überein, dass ein Kind nur in einem der genannten fünf Bereiche zu den oberen drei bis fünf Prozent gehören muss, um als hochbegabt eingestuft zu werden. Allerdings fallen viele hochbegabte Kinder (wenn nicht sogar alle) in mehr als einem der fünf Bereiche in die Kategorie „hochbegabt“. Wie jedoch bereits zuvor angemerkt, ist es gemäß neuerer Definitionen (National Association for Gifted Children, 2010) ausreichend, wenn Fähigkeiten oder Leistun­gen auf einem Gebiet in den oberen 10 Prozent erzielt werden.

Wenn wir die ältere Angabe zwischen drei und fünf Prozent zugrunde legen, sind drei bis fünf von hundert Kindern in einem oder mehreren der genannten Bereiche hochbegabt. Das entspricht etwa einem Kind pro Klasse mit 30 Schülern. Ein bis zwei Kinder von tausend können dagegen als höchstbegabt oder außeror­dentlich hoch begabt eingestuft werden. Während ein Kind bei IQ-Werten von 130 bis 155 lediglich als hochbegabt gilt, spricht man bei Werten von 155 und höher im Allgemeinen von höchstbegabt (Albert, 1971; Gross, 2000a). Manche Fachleute bezeichnen Kinder mit IQ-Werten von 180 und höher als außerordentlich hoch begabt (Gross, 2006).2

Was die Art und Bandbreite ihrer Fähigkeiten anbelangt, so bilden hochbegabte Kinder und Erwachsene eine weitaus heterogenere Gruppe als Individuen mit kog­nitiven Einschränkungen (Robinson & Olszewski-Kubilius, 1996), und Höchstbe­gabte und außerordentlich hoch Begabte weisen sogar noch größere Heterogenität auf. Rogers merkte dazu an: „Man kann nicht oft genug darauf hinweisen, dass höchstbegabte Kinder sich mit höherer Wahrscheinlichkeit voneinander unterschei­den, als dass sie sich ähneln“ (Rogers, 2007a).

Moderne Intelligenztests wie der Wechsler Intelligenztest für Kinder (WISC) und die Stanford-Binet-Skalen, 5. Auflage, haben den oberen Messbereich der IQ-Werte komprimiert, was zu einer stark reduzierten Bandbreite bei den möglichen oberen IQ-Werten geführt hat (Gilman, 2008). Während der WISC IV die erreich­baren IQ-Werte auf 175 erweitert hatte, ist dies beim WISC V nicht der Fall. Bei älte­ren Intelligenztests wie dem Stanford Binet L-M war es möglich, IQ-Werte über 200 zu erzielen, und Werte über 140 waren recht häufig. Da die „Ausreißer“ nach oben bei modernen Testverfahren nun statistisch in eine normale Kurvenverteilung gepresst werden, sind Werte über 140 seltener geworden – wenngleich sie einem mentalen Verhalten entsprechen, das früher durch IQ-Werte von 160 oder mehr repräsentiert wurde. Die Testersteller haben versucht, diesem Problem mit einer Erweiterung der normativen Daten und anderen Änderungen zu begegnen. Den­noch bleiben Items am oberen Testende vor allem bei kürzeren Testverfahren beschränkt, wodurch hohe Werte unterbunden werden.

Der Unterschied zwischen einer hochbegabten und einer außerordentlich hoch begabten Person ist enorm (Shaywitz et al., 2001; Webb, 2013). Die intellektuellen Fähigkeiten von außerordentlich hoch begabten Kindern – vor allem von solchen mit IQ-Werten über 165 – unterscheiden sich so deutlich von anderen hochbegabten Kindern, dass wir sie getrost als „Wunderkinder“ bezeichnen können. Auch in ande­ren Bereichen, wie zum Beispiel Kreativität, Humor oder Führungsqualität, sind die Unterschiede meist eklatant.

Hochbegabung ist daher keine einheitliche Kategorie, sondern ein Spektrum mit unterschiedlichen Dimensionen, und viele nicht kognitive, aber relevante Merkmale werden von Intelligenztests nicht gemessen (Warne, 2016). Sicher ist, dass die typischen Hochbegabungsmerkmale, die wir in diesem Kapitel noch beschreiben werden, bei höchstbegabten Kindern viel ausgeprägter sind, mehr Bereiche umfassen als bei gewöhnlich begabten Kindern und außerdem viel früher im Leben auftreten (Ruf, 2009). Für außerordentlich hoch begabte Kinder sind die intellektuelle Stimulation und der kreative Ausdruck häufig ein emotionales Bedürf­nis, das so intensiv erscheinen kann wie die körperlichen Bedürfnisse bei Hunger und Durst.

Doch obwohl das Konzept der außerordentlich hohen Begabung seit Jahrhunder­ten bekannt ist, werden bei den meisten derzeit gebräuchlichen Intelligenztests iro­nischerweise höchstens vier Standardabweichungen oberhalb des Mittelwerts (sprich: ein IQ-Wert von maximal 160) gemessen. Durch die Verwendung „erweiter­ter Normen“, sofern verfügbar, können Werte über 160 erzielt werden. Diese erwei­terten Normen sind jedoch nur für ausgewählte Tests verfügbar, die ausreichend genau untersucht wurden, um solche Daten erheben und ausarbeiten zu können (Gilman, 2008). Die „Decken“ derzeit gängiger Intelligenztests sind vermutlich schlichtweg nicht hoch genug, um das bei einigen hochbegabten Kindern vorhan­dene Ausmaß an Hochbegabung zu messen.

Die weitverbreitete Annahme, Personen mit IQ-Werten über 160 seien so selten, dass man sie getrost vernachlässigen könne, ist in den letzten Jahrzehnten durch kli­nische Daten infrage gestellt worden (Webb & Kleine, 1993). Geht man von der Nor-malverteilungskurve aus, dürfte nur eine von 32 000 Personen einen IQ-Wert von 160 oder höher haben und nur eine von 2 590 000 einen IQ-Wert von 180 oder höher. Durch zuvor durchgeführte Fähigkeitstests waren diese Kinder leichter zu fin­den, und Feldberichte von Psychologen, die auf höchstbegabte Personen speziali­siert sind (z. B. Ruf, 2009; Webb & Kleine, 1993), deuten darauf hin, dass mindestens doppelt so viele Personen IQ-Werte oberhalb von 160 erreichen und mindestens dreimal so viele IQ-Werte oberhalb von 180. Es könnte also sein, dass die symmetri­sche Normalkurve gar nicht so symmetrisch verläuft wie gemeinhin angenommen, zumindest im oberen Bereich.