Die französische Revolution war durch zwei entgegengesetzte Vorstellungen über Erziehung gekennzeichnet. Beide sind als Antwort auf die Frage zu verstehen, wie Menschen, die zu Staatsbürgern mit gleichen Rechten geworden waren, erzogen werden müssten, um die Ergebnisse der Revolution stabilisieren und als Gesellschaft/Öffentlichkeit mittragen und entwickeln zu können.
Textabschnitte aus: https://www.pedocs.de/frontdoor.php?source_opus=22023, darin:
+ Ulrich Herrmann, Jürgen Oelkers, 1989. Pädagogigierung der Politik und Politisierung der Pädagogik – Zur Konstituierung des pädagogisch-politischen Diskurses der modernen Pädagogoik
+ Dominique Julia, L’institution du citoyen – Die Erziehung des Staatsbürgers
Friedrich Gentz, der deutsche Übersetzer von Edmund BURKE, 1793
Die „National-Erziehung“, und nur sie, muß die Revolution vollenden; denn wenn die Menschen nicht der neuen „Staatsverfassung“ angepaßt werden, wird diese Verfassung nicht überleben. (Gentz:) „Ohne National-Erziehung war die ganze neue Constitution … gleich bey ihrer Geburt dem Untergange gewidmet. Es war also die Pflicht der politischen Selbsterhaltung, die nöthigen mußte, auf eine National-Erziehung zu denken. …
„Was die Idee einer National-Erziehung zuerst in Frankreich erweckt, und die Anführer der Revolution gelehrt hat, das wahre Lebensprinzip der neuen Constitution in diese Erziehung zu setzen, war das Beispiel einiger alter Staaten (Sparta), die mit Hilfe einer solchen Erziehung Verfassungen, welche nicht bloß über die menschliche Natur, sondern sogar wider dieselbe zu seyn schienen, Festigkeit und Dauer verschafften“ . Aber das ist unter der Voraussetzung großer und differenzierter Gesellschaften nicht mehr möglich. Man kann nicht länger, lautet der zentrale Einwand von Gentz, „sich ganzer Generationen zur Erreichung eines großen Zwecks bemächtigen“.
Mirabeau , 1791
„Der Mensch, in seiner Eigenschaft als empfindendes Wesen, wird sehr viel weniger von rigorosen Prinzipien geleitet, die, um sie von allen Seiten her zu begreifen, sein Nachdenken erfordern, als vielmehr von eindrücklichen Gegenständen, staunenerregenden Bildern, großen Schauspielen, tiefen Gefühlsbewegungen … Der Mensch, ich wiederhole es noch einmal, gehorcht eher seinen Eindrücken, als der Stimme der Vernunft. Es reicht nicht hin, ihm die Wahrheit vor Augen zu führen; der entscheidende Punkt ist, ihn dafür zu begeistern: es reicht nicht hin, ihm bei den Dingen, die zu den Grundbedürfnissen des Lebens zählen, behilflich zu sein, wenn man sich dabei nicht auch seiner Einbildungskraft bemächtigt. Es geht also weniger darum, ihn von etwas zu überzeugen, als vielmehr darum, seine Gefühle zu bewegen; weniger darum, ihm zu beweisen, wie ausgezeichnet die Gesetze sind, die ihn regieren, als darum, ihn dazu zu bringen, sie zu lieben, und zwar mittels liebevoller und lebhafter Empfindungen, deren Spuren er vergebens zu tilgen suchte und die ihm, überallhin folgend, unaufhörlich das geliebte und verehrungswürdige Bild des Vaterlandes (patrie) vor Augen führen“.
Condorcet, Bericht über den tlichen Unterricht, 1792
„Die Vertrautheit mit den Ideen der Antike, die wir in unserer Jugend erworben haben, ist vielleicht einer der Hauptgründe jener fast allgemeinen Neigung, unsere neuen politischen Tugenden auf eine von Jugend an eingepflanzte Begeisterung zu gründen … Begeisterung ist nützlich, wenn sie auf Wahrheit gründet, und schädlich, wenn sie sich auf Irrtum stützt. Einmal erregt, dient sie dem Irrtum wie der Wahrheit; und folglich dient sie in Wirklichkeit nur dem Irrtum, weil die Wahrheit ohne sie durch ihre eigenen Kräfte triumphieren würde. Eine nüchterne und strenge Prüfung, bei der allein die Vernunft gehört werden soll, muß daher dem Augenblick der Begeisterung vorangehen. Also zunächst die Vernunft zu bilden und zu lehren, nur auf sie zu hören, um sich gegen die Begeisterung zu wehren, die sonst verwirren oder verdunkeln könnte, und sich dann von jener Begeisterung mitreißen lassen, die die Vernunft billigt: das ist der Weg, den das Interesse der Humanität vorschreibt, und das ist das Prinzip, nach dem der öffentliche Unterricht aufgebaut werden muß.“
Der Plan einer Nationalerziehung von Michel Lepeletier
Um das Individuum ganz und gar im Sinne der Gemeinnützigkeit zu formen verband MICHEL LEPELETIER das Ausbildungsmonopol, die Verpflichtung zum Schulbesuch und den Internatsaufenthalt in Anstalten der Gemeinschaftserziehungund übertrug der Republik für sieben Jahre die absolute Gewalt über das Kind. Die Verpflichtung zum regelmäßigen Besuch der Primärschule genügte ihm nicht, weil das Kind so nur einem partiellen und vorübergehenden Einfluß des Gesetzes unterlag; die biographischen Ungleichheiten zwischen den Kirchengemeinden, mehr noch aber die sozialen, bewirkten seiner Meinung nach, daß ein Kind aus einer armen Familie außerstande war, die Schule so lange zu besuchen, wie es das gesollt hätte. Die Ergebnisse eines solchen Schulbesuchs waren demzufolge „entweder ganz oder partiell gleich Null, oder nur für einen kleinen Teil der Menschen nützlich. In der öffentlichen Erziehung dagegen gehört die ganze Existenz der Kinder uns an, die Materie, wenn ich mich so ausdrücken darf, kommt nie aus der Form heraus, kein Gegenstand von außen kann die Gestalt, die Ihr ihm gebt, verändern“.
Vom fünften bis zum zwölften Lebensjahr sollten alle Knaben, vom fünften bis zum elften Lebensjahr alle Mädchen, auf Kosten der Republik in gesonderten Erziehungshäusern erzogen werden, die in nationaleigenen Gebäuden eingerichtet werden sollten (Klöster, Emigrantenwohnungen usw.). Der Einzugs-und Zuständigkeitsbereich jedes einzelnen Erziehungshauses sollte zwei bis drei französische Meilen nicht überschreiten. Sodann „sollen alle, unter dem heiligen Gesetz der Gleichheit, dieselbe Kleidung, dieselbe Nahrung, denselben Unterricht erhalten und dieselbe Sorgfalt genießen“.
Dabei galt es, dank eines frugalen Lebens, kräftig-robuste Körper zu bilden. Die Republik brauchte robuste Verteidiger und nicht durch die „Verweichlichung des Wohlstandes“ und „die Undiszipliniertheit des Müßiggangs“ degenerierter Körper. Die Gewöhnung der Kinder an körperlicher Arbeit, es mochte in der Landwirtschaft, beim Straßenbau oder in Manufakturen geschehen, war ein weiterer wesentlicher Bestandteil im Erziehungsplan dieser Schulen. Wenn die Kinder dann die Schulen verließen und am aktiven Leben teilnahmen, würde dadurch die Produktivität von Landwirtschaft und Industrie gesteigert werden.
Der Erziehungsplan von Condorcet
Seiner Ausgangsposition entsprechend (s.ob.) kam Condorcet zu drei Grundsätzen für den Aufbau des öffentlichen Erziehungswesens, die kaum polarisierter zu denen von Mirabeau und Saint Etienne gedacht werden können:
- Zu allererst einmal sollten die öffentlichen Unterrichtseinrichtungen der Konkurrenz freier Schulen ausgesetzt werden, da es „notwendig ist, den Eltern wirkliche Freiheit in der Wahl der ihren Kindern schuldigen Erziehungsmittel zu lassen“.13
- Ferner hat die öffentliche Gewalt, genausowenig wie sie „Richter über die Wahrheit einer Religion“14 sein kann, auch nicht das Recht, Meinungen wie Wahrheiten lehren zu lassen: In solchen Dingen steht es ihr nicht zu, „zu bestimmen …, wo die Wahrheit liegt oder wo sich der Irrtum findet“, und niemand hat das Recht zu sagen: „Hier befehle ich euch etwas zu glauben, was ich nicht beweisen kann“.15 Ebenso darf die Neigung zu den Gesetzen und zur Verfassung seines Heimatlandes nicht von einem „blinden Gefühl“ herrühren, das „inmitten des Blendwerks der Vorstellungskraft und der Verwirrung der Leidenschaften“ entsteht, sondern muß sich aus einer auf Vernunft gegründeten Wertschätzung herleiten.16 Das Lehren eines Staatsdogmatismus ist die schlimmste Gefahr, welche einer Demokratie drohen kann, weil sie „eine Art politischer Religion“ (religion politique) installiert: „Dies ist eine Kette, die man dem Geist der Menschen anlegt, und man vergewaltigt die Freiheit in ihren geheiligsten Rechten unter dem Vorwand, die Menschen lehren zu wollen, sie zu lieben“.17 Es ist also angebracht, die Funktion der öffentlichen Gewalt allein auf den Unterricht zu beschränken.
- Die Vorstellung von einer sehr realen Gefahr führte Condorcet schließlich dazu, den gesamten Apparat des öffentlichen Unterrichtswesens als regelrechte Gegenmacht aufzubauen, dazu bestimmt, ein Gegengewicht zu bilden zu der bei den politischen Autoritäten immer vorhandenen Versuchung, aus der Erziehung ein Herrschaftsinstrument zu machen. Es ging ihm darum,die Unabhängigkeit der Lehrer durch eine Ernennungsweise abzusichern, die nicht von Lpolitik und Verwaltung beeinflusst werden konnte, sondern die allein von wissensschaftlcihen Instanzen abhängig sein sollte. Als Sekretär der Akademie der Wissenschaften glaubte er an denWert der akademischen Kooperationsfähigkeit und stellte folglich an die Spitze seines Institutionenplans eine nationale Gesellschaft der Wissenschaft und Künste, die sch aus den hervorragendsten Gelehrten der jeweiligen Disziplinen zusammensetzte, sich selbst durch Zuwahl ergänzte und die den Auftrag hatte, die Lehrer der Lyzeen zu wählen, die ihrerseits wiederum die Lehrer der unmittelbar darunterliegenden Stufe auswählen sollten usf.