Zu neuroanatomischen Unterschieden im Gedächtnissystem

Neuroanatomical dirfferences in the momory systems
Neuroanatomical differences in the memory systems of intellectual giftedness and typical development
Taylor Kuhn 1,, Robin Blades 1, Lev Gottlieb 1, Kendra Knudsen 1, Christopher Ashdown 1, Laurel Martin‐Harris 1, Dara Ghahremani 1, Bianca H Dang 1, Robert M Bilder 1, Susan Y Bookheimer 1

Neuroanatomische Unterschiede in den Gedächtnissystemen von intellktuell hochbegabten Kindern und Kindern mit typischer Entwicklung

Zusammenfassung und Kommentar

Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass es zwischen kognitiv extrem und normal Begabten Unterschiede in der Entwicklung, Struktur und Funktion des Gehirns gibt. Intellektuell begabte und normal begabte Kinder haben möglicherweise von Natur aus unterschiedliche neurologische Entwicklungsverläufe, die auf der Phänomenebene durch unterschiedliche Lernstrategien erkennbar werden. Angenommen wird, dass die unterscheidenden Merkmale in Gehirnscans erkannt und als Ausgangspunkt für pädagogische Interventionen genutzt werden können, so dass passgenaue Förderungen der kognitiven und Verhaltensentwicklung möglich sind. Die Autoren fassen zusammen: „Diese Studie gibt Aufschluss darüber, wie künftige Interventionen explizite oder implizite Systeme (des Lernens und Gedächtnisses)  fördern können, um das Lernen im gesamten Entwicklungsspektrum zu maximieren.“

Ein zentraler Befund bezieht sich auf den Unterschied von explizitem und implizitem Lernen und Gedächtnis. Während das explizite oder deklarative Gedächtnis verbalisierbar Gelerntes (Fakten, Ereignisse …) enthält, werden im  impliziten Gedächtnis Wahrnehmungen, Gewohnheiten, Routinen wie etwa Bewegungsabläufe gespeichert.

Näheres zu dem Unterschied von explizitem und implizitem Gedächtnis (zum Vergrößern klicken):
Memory Korte

Berichtete Unterschiede der Hochbegabten zu Normalbegabten

  • auf Ebene der neuronalen Struktur: Die Regionen, die mit dem expliziten Gedächtnis und hoher kognitiver Leistungsfähigkeit in Verbindung stehen, weisen größere subkortikale Strukturen und eine stärker vernetzte mikrostrukturelle Organisation der weißen Substanz zwischen diesen Strukturen auf. Bei Normalbegabten treten größere subkortikale Strukturen in anderen Regionen auf, nämlich jenen, die mit dem impliziten Gedächtnis in Verbindung gebracht werden. Das explizite und das implizite Gedächtnis belegen unterschiedliche Regionen des Gehirns und bilden unabhängige, aber miteinander verbundene Lernnetze.
  • auf Ebene des neuronalen Prozesses: ausgeprägte Lateralität der Hemisphären, insbesondere der rechten Hemisphäre, bessere Koordination innerhalb und zwischen den Hirnregionen.
  • auf kognitiv-funktionaler Ebene (Leistungsfähigkeit) –  Komplexere und größere Wissensbestände können effizienter eingesetzt werden: bereichsübergreifende Verallgemeinerung, intuitive Wechsel der Aspekte, Selektion des Relevanten, Vergleiche großer Wissensmengen, Einsatz komplexer Strategien. Störbarkeit des Lernens bei nicht expliziten Lernaufgaben
  • auf Verhaltensebene –  stärkere Neigung zu intrinsischer Motivation, Lesen und Denken sowie stärkere Neigung, Zeit allein zu verbringen

Die Stichprobe ist polarisierend angelegt. Auf das Gesamt der Lernenden ausgelegt, ist anzunehmen, dass die jeweiligen individuellen Gedächtnisprofile in einem breiten Spektrum von Gedächtnisvariationen liegen, die durch unterschiedliche Anteile von implizitem und explizitem Lernen und Gedächtnis gekennzeichnet sind. Die Autoren weisen darauf hin, dass sowohl implizites als auch explizites Lernen wichtig seien und Defizite in einem der Bereiche zu sozialen, akademischen und beruflichen Schwierigkeiten führen können.

Die Befunde aus der kleinen Stichprobe wurden an einer „sehr viel größeren“ Stichprobe repliziert. Diese größere Stichprobe enthielt auch Kinder mit sehr niedrigem IQ oder mit psychopathologischen Entwicklungen. Die Autoren vermuten, dass diese Gruppen an einem der Enden des Spektrums liegen könnten, da also wo das explizite oder implizite Gedächtnis unter- oder überentwickelt ist, was sich nachteilig auswirken könne.

Hinweise zum wissenschaftlichen Anspruch

  • Die Stichprobe ist klein, dieser Mangel wird gemindert durch die Replikationsstudie.
  • Die Merkmale der Stichproben TD (typically developing) und IG (intellectual gifted) sind in ungewöhnlichen IQ Bereichen polarisiert: IQ 90 bis 130 versus IQ 145 bis 170 (auch das wird in der Replikationsstudie geändert.) Konsequent sollte daher von Extrembegabten statt von Hochbegabten die Rede sein. Das hat möglicherweise Folgen für die Verallgemeinerung der Ergebnisse auf Hochbegabte im gebräuchlichen Verständnis (> IQ 130).
  • Der Publikation sind die Äußerungen aus den peer reviews beigefügt. Darin wird auf frühere Publikationen verwiesen, in denen ähnliche Ergebnisse, allerdings ohne den Fokus auf Gedächtnisststrukturen, berichtet werden. Ein solcher Hinweis auf Konsistenz spricht für die Validität der Ergebnisse.
  • In Author Response befindet sich eine differenzierte Auseinandersetzung der Autoren mit den Hinweisen der Gutachter, die zum größten Teil im engeren Bereich der Neurobiologie liegen. Deren Gewichtung ist hier nicht möglich. Interessierte finden die Informationen hier: https://www.webofscience.com/wos/woscc/full-record/10.1002%2FBRB3.2348?type=doi