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Dominik Gyseler, o.J.: Hochbegabt und minderleistend – wie passt das zusammen?
Himmel und Hölle. Die beiden Welten von Georg hätten unterschiedlicher nicht sein können. In der Schule hing er lustlos rum, ein Einzelgänger, abgestumpft vom Unterrichtsalltag, gelangweilt von den Inhalten. Als er wegen ungenügender Leistungen in Latein und Mathematik sitzenblieb, war er 18 Jahre alt. Kurze Zeit später ging er ohne Abschluss von der Schule. Dabei hätte Georg gute Voraussetzungen gehabt. Zuhause tauchte er stundenlang in die Werke von Dostojewski, Nietzsche, Hofmannsthal und Baudelaire ein. Er liebte und schrieb Gedichte. Seine Intelligenz ist zwar nie gemessen worden, doch niemanden hätte es überrascht, wäre sie als überdurchschnittlich eingestuft worden.
Georg ist kein Einzelfall. «Das Bewusstsein, dass auch hoch begabte Kinder und Jugendliche Schul-und Entwicklungsprobleme zeigen können, hat bei Kinderärzten, Psychologen und Pädagogen zugenommen», sagt Caroline Benz, Leiterin der entwicklungspädiatrischen Poliklinik des Zürcher Kinderspitals. Dabei reiche das Spektrum von Minderleistungen, Desinteresse am Unterricht und Schulverweigerung über Verhaltensprobleme wie Hyperaktivität, Konzentrationsprobleme oder Aggressivität bis hin zu psychosomatischen Beschwerden wie Kopf- oder Bauchschmerzen.
Dass dies nicht zufällige Beobachtungen sind, zeigen jüngste Forschungsbefunde. Wie viele das schulische Schicksal von Georg teilen, ist abhängig davon, ab wann bei Hochbegabten von schulischen Minderleistungen die Rede ist. Einig ist man sich in der Grundformel, wonach die schulischen Leistungen nicht dem entsprechen, was aufgrund der Intelligenz zu erwarten wäre. Definiert man nun hoch begabte Minderleister als Schülerinnen und Schüler mit einer überdurchschnittlichen Intelligenz (IQ von 130 und mehr), aber höchstens durchschnittlichen Schulleistungen (50 Prozent des Jahrgangs sind besser), dann betrifft dies rund eines von acht hoch begabten Kindern. Auf der Primarstufe in der Stadt Zürich muss auf dieser Basis mit ungefähr 50 hochbegabten Minderleistern gerechnet werden. Zum Vergleich: Dies entspricht in etwa der Häufigkeit des frühkindlichen Autismus. Nicht das zu leisten, was man könnte, muss nicht notwendigerweise problematisch sein. So schreiben manche Jugendliche lieber durchschnittliche Noten, als dass sie Gefahr laufen, als Streber abgestempelt zu werden. Umgekehrt können schulische Probleme die ganze Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigen: «Es wirkt sich erschwerend aus, wenn das Kind sein Wohlbefinden und Selbstwertgefühl vor allem aus Leistung und Erfolg und weniger aus Geborgenheit und Beziehungen in der Familie und im Freundeskreis bezieht», sagt Caroline Benz. Ein Problem besteht dann, wenn ein emotionaler Leidensdruck da ist. Vereinfacht kann man bei hoch begabten Minderleistern die Frage stellen: Können sie nicht oder wollen sie nicht?
Überfordert mit Unterforderung
Verglichen mit Hochbegabten, die in der Schule erfolgreich sind, erleben sich hoch begabte Minderleister als weniger motiviert und interessiert, sie schätzen ihre Fähigkeiten niedriger ein und fühlen sich häufiger unterlegen und unzufrieden. Diese Eigenschaften sind zugleich Ursache und Folge der Schulprobleme: Wer an seinen Fähigkeiten zweifelt, leistet weniger; wer weniger leistet, verliert den Glauben an seine Fähigkeiten. Zusätzlich angetrieben wird diese Negativspirale durch verschiedene äussere Umstände wie mangelnde intellektuelle Anregungen im Elternhaus, problematische Beziehungen zur Lehrperson oder die fehlende Herausforderung im Unterricht.
Die Besonderheit bei hoch begabten Minderleistern besteht darin, dass deren Probleme häufig nicht trotz, sondern gerade wegen der Hochbegabung entstehen. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Unterforderung im schulischen Unterricht. Nicht jeder Schüler, der lustlos in der Schulbank hängt, hat freilich das Potenzial zum Genie: «Langeweile ist manchmal vielmehr ein Zeichen für schlechten Unterricht als für eine hohe Intelligenz», sagt Caroline Benz, die gleichzeitig aber auch betont «Eine Unterforderung ist nicht automatisch ein Problem.» Während die einen Hochbegabten zum Teil erhebliche Schulprobleme haben, können andere Hochbegabte gut mit der Unterforderung umgehen. Vermutet wird, dass dic beiden Gruppen die Unterforderung emotional unterschiedlich verarbeiten. Das Problem: Das sind Prozesse, die zum Teil sogar unbewusst ablaufen und deshalb mit Beobachtungen oder Befragungen kaum zu erfassen sind. Die Lösung: ein Blick ins Gehirn.
Aljoscha Neubauer von der Universität Graz befasst sich seit vielen Jahren mit dem Gehirn hoch begabter Menschen. Sein zentraler Befund: Hochbegabte aktivieren beim Problemlösen insgesamt nicht wie erwartet mehr, sondern weniger Nervenzellen. Diese so genannte «neuronale Effizienz» zeigt sich schon früh: «Im Stirnhirn kann dies schon ab einem Alter von 10 bis 14 Jahren beobachtet werden.» In hinteren Hirnregionen hingegen, in denen das erworbene Faktenwissen abgespeichert ist, zeigen kluge Köpfe eine höhere Aktivität als andere. Hochbegabte scheinen viele Lösungswege einfach zu «sehen», sie sind ihnen klar — in etwa so, wie die meisten Jugendlichen und Erwachsenen einfach wissen, dass 7 x 9 = 63 ergibt, während Schulkinder das erst lernen müssen.
«Unangenehm! Gefährlich! Aufgepasst!»
Übung macht dabei den Meister. «Wenn Synapsen häufig aktiviert werden, schlägt sich das früher oder später auf die Hirnstruktur nieder», sagt Neubauer, umgekehrt gelte dies aber eben auch: «Werden neuronale Verbindungen nicht aktiviert, können sie sich wieder zurückbilden, getreu dem Motto: use it or lose it. Bei hochbegabten Minderleistern könnte es nun sein, dass negative Emotionen diese neuronale Effizienz überlagern. Derzeit wird diese These in einer Studie der Hochschule für Heilpädagogik in Zürich überprüft.
Besonders im Visier der Forschung ist die Amygdala. Dieser Kern im Emotionszentrum des Gehirns hat die Aufgabe, die Umgebung innerhalb von Millisekunden nach einem ganz einfachen Muster emotional einzufärben: Angenehm oder unangenehm? Gefährlich oder ungefährlich? Bedeutsam oder nicht bedeutsam? Dabei ist die Amygdala vor allem bei negativen Emotionen wie Frustration oder Ärger aktiviert. Nun laufen diese Prozesse nicht bewusst ab. Mit Verfahren wie der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) kann jetzt aber gemessen werden, ob die Amygdala bei Hochbegabten mit Schulproblemen tatsächlich höher aktiviert ist.
Falls dies zutrifft, bedeutet das im Fall einer schulischen Unterforderung, dass das Gehirn mit negativen Emotionen verbundene Körperzustände wie Schwitzen, Spannung oder die Atmung stärker wahrnimmt. Die Amygdala signalisiert dann: «Unangenehm! Gefährlich! Aufgepasst!» Mit anderen Worten: Stress. Für Hochbegabte mit Schulproblemen, so die Vermutung, ist eine Unterforderung also belastender als für Hochbegabte, die in der Schule reüssieren. Sie reagieren rein physiologisch stärker darauf. Allerdings ist ihnen dies nicht bewusst: Sie haben Stress, ohne Stress zu erleben. Erstreckt sich die Unterforderung über mehrere Monate und länger, gelangen sie in einen belastenden Zustand, den die Lehrpersonen, Eltern oder Schulpsychologen manchmal als «Leidensdruck» bezeichnen.
Eine Möglichkeit zur erhöhten Wahrnehmung solcher Emotionen bieten verschiedene Übungen zur Steigerung der Achtsamkeit. Ziel ist es, seine Empfindungen intensiv, aber wertfrei wahrnehmen zu können: Wie fühlt sich mein Körper an, wenn ich schon wieder Aufgaben lösen muss, die ich schon lange kann? Wie schnell schlägt mein Puls? Sind meine Hände feucht? Wie sitze ich? Wie ist meine Atmung — flach, hektisch, gleichmässig?
Je eher dieser Leidensdruck erkannt wird, desto besser. «Wenn die Hirnforschung herausfindet, wie dieser Leidensdruck entsteht, dann wäre dies eine grosse Hilfe für die Beratung», meint Caroline Benz und erklärt: «Kinder, die Probleme früh wahrnehmen und ausdrücken können, haben grössere Chancen, dass ihre Bedürfnisse von der Umwelt erkannt und befriedigt werden.»
Die Schule hat dabei zwei Hauptaufgaben. Erstens sollte eine Unterforderung so gut wie möglich verhindert werden — indem beispielsweise die Unterrichtsinhalte so aufbereitet werden, dass sie an das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler anknüpfen und von ihnen als bedeutend empfunden werden. Nun wird es jedoch bei Hochbegabten mit hoher Wahrscheinlichkeit immer wieder zu Situationen der Unterforderung kommen, weshalb ihnen, zweitens, ein angemessener Umgang damit gelehrt werden sollte. Dies kann neben Übungen zur Achtsamkeit auch das Erlernen einer Strategie beinhalten, um im Moment allzu negative und belastende Gedanken zu vermindern. Ziel dieser Massnahmen ist es nicht, die Leistung zu steigern, sondern die hochbegabten Minderleister in die Lage zu versetzen zu erkennen, was ihnen wichtig ist.
Entfaltung in der Lyrik
Georg absolvierte die Ausbildung zum Apotheker, konnte aber im Berufsleben nie richtig Fuss fassen. Seine sozialen Probleme trugen wesentlich dazu bei: So weiss eine Anekdote zu berichten, dass er einmal an einem einzigen Morgen sechs Hemden durchschwitzte, weil ihm der Kontakt mit den Kunden so stark zusetzte.
In seinen Gedichten jedoch, in denen er sein Leiden in und an der Welt, letztlich sein Scheitern, in Worte fasste, vermochte er seiner Begabung in wunderbarer Weise Ausdruck zu verschaffen. So sehr, dass ein anderer Grosser seines Fachs, Albert Einstein, später bemerkte, dass «keiner in Österreich schönere Verse schrieb als Georg Trakl».
Dominik Gyseler ist Dozent an der Hochschule für Heilpädagogik in Zürich. In der Forschung beschäftigt er sich mit neutowissenschaftlichen Befunden zu Phänomenen wie Hochbegabung, Autismus, Aggression oder ADHS. Die Erkenntnisse versucht er in Beziehung zu pädagogisch-therapeutischen Mossnahmen zu stellen — so etwa im Zertifikatslehrgang (CAS) Neurowissenschaften und Heilpädagogik..