Händigkeit und neurologische Erkrankungen

Die Ruhruniversität Bochum weist Anfang Mai 2025 auf eine Publikation deutscher Wissenschaftler im Psychological Bulletin hin:
Was Händigkeit und neurologische Erkrankungen verbindet  Ruhr-Universität Bochum am 5. Mai 2025

Dass Links- oder Gemischthändigkeit bei Patientinnen und Patienten mit bestimmten neurologischen Erkrankungen wie Autismus-Spektrum-Störungen auffällig häufig vorkommt, ist eine oft berichtete Beobachtung aus der Praxis. Die Verbindung von Händigkeit und diesen Erkrankungen liegt wahrscheinlich darin begründet, dass beide durch Prozesse in der frühen Hirnentwicklung beeinflusst werden. Verschiedene Studien untersuchten diesen Zusammenhang für einzelne Erkrankungen und konnten ihn mal belegen, mal nicht. Eine Meta-Analyse, die ein internationales Forschungsteam aus Bochum, Hamburg, Nimwegen und Athen durchgeführt hat, zeigt, dass eine abweichende Händigkeit besonders bei Menschen häufiger vorkommt, die an einer Erkrankung leiden, die sich früh im Leben manifestiert und mit sprachlichen Symptomen einhergeht. Dazu gehören etwa Dyslexie, Schizophrenie oder Autismus. Sie berichten in der Zeitschrift Psychological Bulletin vom 2. Mai 2025. 

„Wir hatten die Vermutung, dass eine abweichende Händigkeit mit Erkrankungen in Verbindung stehen könnte, deren Symptome mit Sprache zu tun haben“, erklärt Dr. Julian Packheiser vom Institut für Kognitive Neurowissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. „Sprache ist wie die Händigkeit im Gehirn sehr einseitig beheimatet, weswegen es naheliegt, dass die Entwicklung von beidem und ihre Störungen zusammenhängen könnten.“ Außerdem hegten die Forschenden den Verdacht, dass Links- oder Gemischthändigkeit besonders häufig in Verbindung mit Erkrankungen auftreten könnte, die sehr früh im Leben auftreten. Denn auch die Händigkeit ist sehr früh in der Entwicklung festgelegt. „Beide Vermutungen haben sich bestätigt“, berichtet Prof. Dr. Sebastian Ocklenburg von der Medical School Hamburg. Links- oder Gemischthändigkeit tritt bei Personen mit Dyslexie, einer Störung der Lesefähigkeit, zum Beispiel statistisch signifikant häufiger auf als bei gesunden Personen. Auch bei Autismus, der in schweren Fällen mit Kommunikationsstörungen einhergeht, und bei Schizophrenie, bei der Betroffene mitunter Stimmen hören, gibt es sowohl sprachliche Symptome als auch gehäuft Links- und Gemischthänder*innen.

Die Häufung der abweichenden Händigkeit ließ sich zudem wie vermutet bei Erkrankungen desto häufiger nachweisen, je früher sich die Symptome manifestieren. „Bei Menschen mit Depressionen, die durchschnittlich erst um die 30 Jahre auftreten, konnten wir keinen Zusammenhang nachweisen“, berichtet Julian Packheiser. Die Forschenden sehen darin einen Beleg dafür, dass die Händigkeit und verschiedene neuronale Entwicklungsstörungen durch teilweise überlappende Prozesse in der frühen Hirnentwicklung beeinflusst werden.

Hier die Publikation, auf die der Hinweis der Ruhr-Universität Bezug nimmt:
Packheiser, J., Borawski, J., Berretz, G., Merklein, S. A., Papadatou-Pastou, M., & Ocklenburg, S. (2025). Handedness in mental and neurodevelopmental disorders: A systematic review and second-order meta-analysis. Psychological Bulletin, 151(4), 476–512. https://doi.org/10.1037/bul0000471 

Klarstellung E&B: Zur Vermeidung von Missverständnissen ist diese Klarstellung wichtig: Linkshänder allgemein haben kein signifikant erhöhtes Risiko, im Laufe ihres Lebens eine psychische oder neuroentwicklungsbedingte Störung zu entwickeln. Es gibt also keine Grundlage, Linkshändigkeit als Risikofaktor für solche Störungen im Alltag zu betrachten. Umgekehrt zeigen die Daten: Menschen mit bestimmten psychopathologischen Diagnosen (z. B. Schizophrenie, Autismus, Dyslexie) sind statistisch signifikant häufiger nicht-rechtshändig, also links- oder beidhändig, als Kontrollgruppen ohne diese Diagnosen.
Händigkeit bei psychischen und neurologischen Entwicklungsstörungen: Eine systematische Überprüfung und Meta-Analyse zweiter Ordnung  –  Zusammenfassung der Autoren des Forschungsberichts (eng. Originaltext s.u.)
In den letzten zehn Jahren wurden mehrere Metaanalysen zur Handpräferenz bei psychischen und neurologischen Entwicklungsstörungen veröffentlicht. Einige Störungen, wie Schizophrenie, wurden mit erhöhten Raten atypischer Handpräferenzen (d. h. Nicht-Rechts-, Links- oder gemischte Handpräferenzen) in Verbindung gebracht – andere hingegen, wie Depressionen, nicht. Um übergreifende Muster zwischen Handpräferenz und Psychopathologie zu identifizieren und den Einfluss potenzieller Moderatoren unabhängig von der Diagnose abzuschätzen, müssen wir die umfangreichen Informationen in den Datenbanken dieser Metaanalysen nutzen und eine höherwertige Analyse der metaanalytischen Daten über Diagnosen hinweg durchführen. Zu diesem Zweck haben wir eine Metaanalyse zweiter Ordnung durchgeführt, nachdem wir zuvor veröffentlichte Metaanalysen zur Handpräferenz bei verschiedenen psychischen und neurologischen Entwicklungsstörungen überprüft, aktualisiert und neu analysiert hatten. Insgesamt umfasst diese Studie 402 Datensätze mit insgesamt 202.434 Personen. Im Durchschnitt war eine atypische Handpräferenz in den Fällen signifikant häufiger als in der Kontrollgruppe (Nicht-Rechts-Odds Ratio [OR]: 1,46, 95 % KI [1,35, 1,59]; Links-OR: 1,34, 95 % KI [1,22, 1,48]; gemischt OR: 1,63, 95 % KI [1,38, 1,93]). Weitere Analysen zeigten, dass die Unterschiede zwischen Fall und Kontrolle je nach Diagnose variierten. Einige Diagnosen, wie Schizophrenie, sind mit einer hohen Häufigkeit atypischer Handpräferenzen verbunden (nicht rechts OR: 1,50, 95 % KI [1,32, 1,70]; links OR: 1,37, 95 % KI [1,17, 1,61]; gemischt OR: 1,70, 95 % KI [1,19, 2,44]). Moderatoranalysen zeigten, dass neurologische Entwicklungsstörungen, nicht-neurologische Entwicklungsstörungen mit frühem Erkrankungsalter und Erkrankungen mit sprachbezogenen Symptomen alle mit einer höheren Rate an atypischer Handpräferenz assoziiert waren. Dieser Befund legt nahe, dass der Zusammenhang zwischen Händigkeit und klinischen Erkrankungen am besten aus einer transdiagnostischen, entwicklungsorientierten und symptomorientierten Perspektive verstanden werden kann. (PsycInfo-Datenbankeintrag (c) 2025 APA, alle Rechte vorbehalten)

Handedness in mental and neurodevelopmental disorders: A systematic review and second-order meta-analysis  –  Author’s Abstract
Several meta-analyses on hand preference in mental and neurodevelopmental disorders have been published in the last decade. Some disorders, like schizophrenia, have been associated with increased rates of atypical hand preference (i.e., non-right-, left-, or mixed-hand preference)—but others, like depression, have not. To identify overarching patterns between hand preference and psychopathology and estimate the influence of potential moderators independent of diagnosis, we need to leverage rich information in the databases of these meta-analyses and conduct a higher level of analysis of meta-analytic data across diagnoses. To this end, we performed a second-order meta-analysis after reviewing, updating, and reanalyzing previously published meta-analyses on hand preference in various mental and neurodevelopmental disorders. In total, this study includes 402 data sets totaling 202,434 individuals. On average, atypical hand preference had a significantly higher frequency in cases compared to controls (nonright odds ratio [OR]: 1.46, 95% CI [1.35, 1.59]; left OR: 1.34, 95% CI [1.22, 1.48]; mixed OR: 1.63, 95% CI [1.38, 1.93]). Further analyses indicated that case–control differences varied with diagnosis. Some diagnoses, like schizophrenia, are associated with a high frequency of atypical hand preference (nonright OR: 1.50, 95% CI [1.32, 1.70]; left OR: 1.37, 95% CI [1.17, 1.61]; mixed OR: 1.70, 95% CI [1.19, 2.44]). Moderator analyses showed that neurodevelopmental conditions, nonneurodevelopmental conditions with an early age of onset, and conditions that include symptoms related to language were all associated with higher rates of atypical hand preference. This finding suggests that the association between handedness and clinical conditions is best understood from a transdiagnostic, developmental, and symptom-focused perspective. (PsycInfo Database Record (c) 2025 APA, all rights reserved)