Grundlagen: Hochbegabung, Hochleistung, Talent

In diesem Kapitel zu den Grundlagen der Hochbegabtenpsychologie gibt es zur Zeit 6 Texte:
Elsbeth Stern, Aljoscha Neubauer, 2016. Intelligenz: Kein Mythos, sondern Realität. Psych. Rundschau 67 (1), 1-13 hier im Editorial
A. Deiglmayr, L. Schalk, E. Stern, 2017. Begabung, Intelligenz, Talent, Wissen, Kompetenz und Expertise: Eine Begriffsklärung. In: Tests und Trends, Bd. 15, S. 1 – 16  hier im Editorial

R.F. Subotnik, P. Olszewski-Kubilius, F.C. Worrell, 2011. Begabung und Begabtenförderung neu denken. Ein Vorschlag für die Zukunft auf der Grundlage der psychologischen Wissenschaft. American Psychological Association (Englisches Original) (Deepl Übersetzung deutsch, grob bearbeitet)  hier im Editorial
Franz E. Weinert und Michael R. Waldmann. 1985. Das Denken Hochbegabter. Intellektuelle Fähigkeiten und kognitive Prozesse.   Zeitschrift für Pädagogik 31 (1985) 6, 789-804  hier im Editorial
Del Siegle, 2019. Underachievement verstehen. In: Handbook of Giftedness in Children (pp.285-297)  hier im Editorial
Klaus Urban, 2004. Hochbegabtenförderung und Elitenbildung. In. Aus Politik und Zeitgeschichte, 10, 2004   hier im Editorial

Editorial     

Stern und  Neubauer (
Intelligenz: Kein Mythos, sondern Realität, 2016) erläutern die wissenschaftliche Validität und praktische Relevanz der psychometrischen Intelligenz: also der Messung der kognitiven Grundlagen von intelligentem Verhalten und dessen Variationen innerhalb einer Population. Beginnend mit den Wirrungen der Definitionen von Intelligenz gehen die Autoren auf die kritische Sicht von Öffentlichkeit und Teilen der wissenschaftlichen Psychologie ein und setzen ihr – so der Anspruch – Punkt für Punkt wissenschaftlich gültige Argumente entgegen. Ihr Fazit: Intelligenztests liefern erstaunlich hohe Validitäten, die nicht alternativ erklärt werden können. Interindividuelle Unterschiede können diagostiziert und dank der Beiträge von Populationsgenetik und Neurowissenschaft auch immer besser erklärt werden.

Ein Jahr später liefern Stern u.a. in ihrem Aufsatz Begabung, Intelligenz, Talent, Wissen, Kompetenz und Expertise: eine Begriffserklärung“ (2017) „Arbeitsdefinitionen“ der Begriffe. Hintergrund für diesen Beitrag ist der 2015 erfolgte Wechsel der Kultusministerkonferenz von der Hochbegabtenförderung hin zu der Inititative „Leistung macht Schule“ (auf dieser Seite), die in Reaktion auf enttäuschende Ergebnisse der internationalen Bildungsvergleiche das Ziel verfolgt, der Begabungsförderung eine breitere Basis zu geben. Neben der kognitiven Begabung sind damit die Begriffe Talent, Wissen, Kompetenz und Expertise (mit schwächerem Anspruch Emotion und Motivation) ins Zentrum der Diskussion gerückt. Anspruch des Beitrags von Stern u.a. ist, „deren Zusammenspiel am Beispiel schulischen Lernens zu illustrieren und kurz zu umreißen, was man wie – ausgehend von der konzeptuellen Abgrenzung – messen kann“.
In ihren Arbeitsdefinitionen fällt auf, dass die Autoren  eine Differenz zwischen Begabung und Intelligenz setzen. Mit Begabung wird das „größtenteils genetisch determinierte Potenzial“ erfasst, mit Intelligenz die kognitiven Fähigkeiten, die sich auf der Basis der Begabung und der biografisch verfügbaren Lerngelegenheiten entwickeln. (Mit „Fähigkeiten“ sind die in Intelligenztests gemessenen Bereiche und Unterbereiche gemeint, z.B. visuell-räumliche Fähigkeiten, Arbeitsgedächtnis). „Intelligenz gilt als die realisierte Begabung im kognitiven Bereich, die wiederum in den Erwerb von Wissen und Kompetenzen investiert werden kann.“ Die gesetzte Differenz kennzeichnet also die Entwicklung von Begabung zu Intelligenz und führt somit eine Verlaufskomponente ein. These: Die in IQ Tests gemessene sogenannte fluide Intelligenz ist (auch) von Umwelteinflüssen abhängig.

(Während die Autoren den gemeinten Verlauf zwischen Begabung und Intelligenz ansetzen,interpretieren die Herausgeber des Textes (Trautwein, U. und Hasselhorn, M.) ihn als Weg vom Potenzial zur Performanz (z.B. Eminenz in fachlichen Bezügen)).
Der Verlaufsgedanke stammt aus einer Monografie der American Psychological Association (Begabung und Begabtenförderung neu denken, s.u.) Darin wird diese Definition gegeben :
„Hochbegabung ist die Manifestation einer Leistung oder eines Ergebnisses, das in einem Talentbereich deutlich am oberen Ende der Verteilung liegt, auch im Vergleich zu anderen hochbegabten Personen in diesem Bereich. Darüber hinaus kann Hochbegabung als entwicklungsabhängig betrachtet werden, da in den ersten Stadien das Potenzial die Schlüsselvariable ist; in späteren Stadien ist die Leistung das Maß für die Hochbegabung; und bei voll entwickelten Talenten ist die Eminenz die Grundlage, auf der diese Bezeichnung vergeben wird. Psychosoziale Variablen spielen bei der Ausprägung von Hochbegabung in jedem Entwicklungsstadium eine wesentliche Rolle. Sowohl die kognitiven als auch die psychosozialen Variablen sind formbar und müssen bewusst kultiviert werden.“ (s. Abschnitt Definitionen)
Damit wird deutlich, dass „Hochbegabung“ hier nicht als Phänomen gemeint ist (wie in dem Aufsatz von Stern und Neubauer 2016), sondern dass die Definition eine Präskription der Betrachtung setzt mit dem Ziel der Entwicklung von Potenzial zu Eminenz. Das stimmt mit den Motiven der Initiative „Leistung macht Schule“ überein (hierzu auch das Vorwort der Herausgeber von Stern u.a.).

Die American Psychological Assosiation (APA) veröffentlichte 2011 eine umfangreiche Monografie zur Hochbegabtenförderung Begabung und Begabtenförderung neu denken, der sie den Untertitel „Ein Vorschlag für die Zukunft auf der Grundlage der psychologischen Wissenschaft“ gab. Nach einleitenden Ausführungen über die Einstellungen der Öffentlichkeit, Stand der Forschung und vorhandenen Modellen der Hochbegabung schlagen die Autoren ein Mega-Modell der Talententwicklung vor, das neben kognitiven/akademischen Leistungen alle weiteren Formen von Leistung beinhaltet, und schließt mit Ausführungen darüber, welche methodischen Herausforderungen und Forschungsbedarfe dieses Modell begründet.
Diese Arbeit darf als Bezugspunkt für das Umdenken in der Hochbegabtenförderung gelten, sie zielt auf eine Verbreiterung der Basis der Begabungs- und Talentförderung im Interesse des gesellschaftlichen Nutzens.
Hinweis: Dieser Text wurde mit einem verlinktem Inhaltsverzeichnis versehen, so dass er zielgerichtet nach einzelnen Themenbereichen zur Kenntnis genommen werden kann.

Der Bericht über den Stand der Hochbegabtenforschung von Weinert und Waldmann wurde bereits im August 1985 auf der 6th World Conference on Gifted and Talented Children  in Hamburg vorgetragen, enthält aber (soweit unserer Kenntnis reicht) Informationen, die bis heute nicht durch neue Forschungen ersetzt werden: Das Denken Hochbegabter. Intellektuelle Fähigkeiten und kognitive Prozesse. Dieser Forschungsbericht ist in einer Zeit entstanden, in der die kognitive Psychologie große Fortschritte gemacht hat. Daher ist es nicht zufällig, dass die Autoren die Beziehung zwischen Intelligenzdiagnostik einerseits und Denken, Problemlösen sowie Wissensaufbau und Expertisierung andererseits in den Mittelpunkt gestellt haben. Ihr Urteil fällt hart aus: Die in den Tests verwendete Aufgabenspezifikation ist nicht repräsentativ für die Fähigkeiten, die zur Lösung komplexer Denkaufgaben oder gar offener Probleme erforderlich sind. Ein Zusammenhang kann empirisch nicht bestätigt werden. Während es in der Testpsychologie um die Validität der Messung und die Stabilität des in der Kindheit gemessenen IQ über die  Lebensspanne geht, hat es die kognitive Psychologie mit der Entwicklung des Denkens zu tun, einem Geschehen mit vielen Teilkomponenten, die unter der Oberfläche des sichtbaren Verhaltens zusammenwirken und sich nicht immer gleichzeitig und gleichsinnig verändern.

Um Begabungen wirksam zu fördern, müssen Intelligenzdiagnostik und kognitive (Entwicklungs-) Psychologie zusammengeführt werden. Diese Forderung wird in dem Forschungsbericht von Weinert und Waldmann umfassend belegt. Vergleicht man sie im einzelnen mit der Forschungsagenda der APA (s.ob. Begabung und Begabtenförderung neu denken) von 2011, dann wird deutlich, dass trotz aller Fortschritte der Kognitionspsychologie dieses Grundproblem noch nicht gelöst ist.

Del Siegle, University of Connecticut, ist Direktor des National Center for Research on Gifted Education
und des Renzulli Center for Creativity, Gifted Education, and Talent Development. Sein Beitrag „Underachievement verstehen“ führt er Gründe für Leistungsversagen an und aus, darunter auch den, der für das Paradoxon „Underachievement“ wichtig ist, aber oft  übergangen wird: „Für sie (die Underachiever) ist jede schwierige Aufgabe ein Test für ihre Begabung, und viele werden zu Underachievern, weil sie einfach nicht bereit sind, dieses Risiko einzugehen.“ Ein detaillierter hilfreicher Aufsatz, der einen sehr guten Überblick gibt.
Hervorgehoben werden soll hier noch eine Anmerkung zum Enrichment im Sinn von Renzulli, die erneut belegt, dass die in Deutschland übliche Praxis, das Auslassen von Enrichment III, eine folgenreiche Fehlentwicklung ist:

„Untersuchungen des Typs III sind eine Komponente des Schoolwide Enrichment Model (SEM; Renzulli & Reis, 2014) und des Enrichment Triad Model (Renzulli, 1977) und sind oft das Ergebnis eines Interesses, das durch die Teilnahme des Schülers an einer allgemeinen explorativen Aktivität (Typ I Enrichment) geweckt wurde, und beinhalten ein Training kognitiver und affektiver Fähigkeiten (Typ II Enrichment). Forschungen über Schüler, die an Typ III Enrichment teilgenommen haben, deuten auf einen Zusammenhang zwischen den frühen und späteren Interessen der Schüler (Westberg, 2010), den Plänen für die weiterführende Schule (Hébert, 1993), der Berufswahl (Delcourt, 1994; Starko, 1988), der Zielbewertung (Brigandi, Siegle, Weiner, Gubbins, & Little, 2016), dem Grad der Selbstwirksamkeit (Schack, Starko, & Burns, 1991; Starko, 1988) und der Fähigkeit zur Selbstregulation (Hébert, 1993) hin.“

Das Modell der Leistungsorientierun

Der schon ältere, aber brillante Aufsatz von Klaus Urban, Hochbegabtenförderung und Elitenbildung (2004) setzt sich mit den Spannungsverhältnissen zwischen Demokratie und Eliten, Menschenrechten und gesellschaftlichem Nutzen auseinander und kommt zu dem Ergebnis: „Elite und Demokratie sind also nicht als Gegensätze aufzufassen. Vielmehr besteht ein funktionales, um nicht zu sagen dialektisches Verhältnis zwischen den vielfältigen, im Prinzip offenen Eliten und einer demokratischen Verfassung. Diese gewährt jedem Einzelnen die Chance auf und Unterstützung für eine Qualifizierung und Professionalisierung, durch die wiederum die Eliten bestimmt sind.“ Ein gelungener Beitrag zu der ethischen Frage der selektiven Förderung.